Free Boris! – Hasta La Victoria Siempre [Interview]

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Als mein Freund Boris von »The Grifters« festgenommen wurde, war das kein Schock für mich – im Gegenteil. Ich wusste von Anfang an, dass das eines Tages passieren ­würde, schließlich hasst die französische Polizei Typen, die als Graffiti-Sprüher erfolgreich werden und sich zudem über die Staatsmacht lustig machen. Womit ich jedoch nicht gerechnet hätte, war, dass sie ihn für vier Monate wegsperren würden. Während er weg war konnte niemand ihn besuchen, der Briefkontakt lief nur sehr schleppend. Als er dann endlich wieder »draußen« war, trafen wir uns so schnell wie möglich und gingen nur vier Tage nach seiner Freilassung zurück zu dem Gefängnis, in dem er kurz zuvor noch seine Strafe abzusitzen hatte. Dort machte ich die Fotos und sprach mit ihm über seine Zeit im Gefängnis. Die Haftanstalt befindet sich in Fleury-mèrogis, in einer Gegend, die vom Militär kontrolliert wird. Dementsprechend ist es dort selbstverständlich verboten, Fotos zu schießen. Beinahe wurden wir festgenommen, als wir uns darüber hinwegsetzten. Im Anschluss setzten wir uns dennoch hin, um dieses Interview aufzunehmen – immerhin: Sich unterhalten, das darf man in Fleury-mèrogis noch…
 
Boris, wie geht es dir? Wie fühlte es sich an, aus dem Knast zu kommen?
Besser als im Knast zu landen! Im ersten Moment, als ich rauskam, war ich wirklich geschockt. Aber dann war ich froh, die Gesichter derer zu sehen, die auf mich draußen gewartet haben. Ich war keine Ewigkeiten weggesperrt, am Ende waren es nur vier Monate, aber eingesperrt und frei – das sind schon zwei völlig unterschiedliche Leben. Jetzt brauche ich erst mal ein paar Tage, um mich in meinem normalen Leben wieder zurechtzufinden; vernünftiges Essen, meine Projekte und wieder eigene Routinen. Andere als die, die ich während der Haft zu erfüllen hatte.
 
Was hat die Polizei dir eigentlich ­vorgeworfen?
Man kann es vielleicht mit Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung ­übersetzen. Tatsächlich war das der ­Hauptvorwurf, ­gefolgt von gemeinschaftlicher­ ­Sachbeschädigung und Anstiftung zum Verstoß gegen das ­Betäubungsmittelgesetz. Um es kurz zu sagen: Ich bin der Don ­Corleone des Graffiti und The Grifters sind die Mafia – zumindest für die einfach gestrickte Pariser Justiz. Im Gegensatz zu jedem rechtsstaatlichen Grundprinzip wurde ich in Untersuchungshaft genommen, noch bevor überhaupt irgendein konkreter Tatvorwurf formuliert wurde. Und so warte ich bis heute auf eine Anklage. Während meiner Haft realisierte ich erst, dass das prophylaktische Inhaftieren wohl gute französische Sitte ist und gerne bis zu zwei Jahren ­dauern kann. Umso glücklicher bin ich natürlich ­darüber, dass ich jetzt draußen meine »­Freiheit« genießen kann. »Freiheit«, weil mein Status natürlich fernab jeder ­Freiheit ist; ich darf weder in Kontakt mit meiner ­Freundin treten noch das Land verlassen.
 

 
Wie haben die Leute im Knast reagiert, nachdem du ihnen erzählt hast, dass du wegen Graffiti drinnen bist?
Die meisten waren erst einmal überrascht. Einige wussten nicht mal, dass Graffiti illegal ist, Andere haben amüsiert gelacht. Wenn du dir eine Verbrechenspyramide vorstellst, bei der Ladendiebstahl im Erdgeschoss und Organisierte Kriminalität an der Spitze ist, dann befindet sich Graffiti ungefähr auf Höhe des Fundaments dieser Pyramide. Unter Knastis hängt dein Status natürlich maßgeblich davon ab, weswegen du sitzt. Man kann sich demnach vorstellen, dass ich unter den Häftlingen im Vergleich ­geradezu als Intellektueller galt. Die Jungs dort haben mir immer wieder gesagt, dass ich da schlicht nicht hingehöre, und versucht, mich damit aufzubauen. Lustig, denn mit »Jungs« meine ich nicht nur die Häftlinge, sondern auch die Wärter und die normale Polizei. Jedem, dem ich meine Geschichte erzählt habe, konntest du unmittelbar diesen »What da fuck«-Ausdruck im Gesicht ablesen.
 
Fleury ist Europas größtes Gefängnis und zu mehr als 200% belegt (6.000 Häftlinge teilen sich 2.900 Haftplätze). Wie stellte sich die Situation vor Ort dar? Gerade, weil ein heißer ­Sommer sich ja im Knast nicht unbedingt ­förderlich auf die Stimmung auswirkt.
Es gibt ja ohnehin keine schöne Zeit im Knast. Im Juli war es höllisch heiß, und ich erinnere mich daran, dass ich somit ein paar Wochen kostenlose perma-Saunaaufenthalte genießen durfte. Zum Glück ist der Pariser Sommer kein Bulgarischer. Ein großes Problem mit der Belegung besteht aber in der willkürlichen Kombination der Zellengenossen untereinander: zwei Mann teilen sich 22 Stunden am Tag eine neun Quadratmeter große Zelle. Es gibt unter den einzelnen Leuten natürlich riesige ­kulturelle, religiöse und soziale Unterschiede, die immer wieder zu Konflikten führen, die aber gar nicht erst entstehen müssten. ­Teilweise dachte ich, die Wärter machen bei der ­Belegung Sozialexperimente zu ihrer ­eigenen Belustigung.
 
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Wie waren diese vier Monate in Fleury-mèrogis?
Auf der einen Seite eine harte, auf der Anderen eine wichtige Erfahrung. Ich wusste, wie ich negative Energie in Positive umwandeln kann, und so hat es nicht lange gedauert, bis ich aus dem Knast meinen eigenen Campus gemacht habe. Ich habe die Zeit genutzt, um Körper und Geist zu trainieren. Ich habe gelesen, ­geschrieben, Sport ­getrieben und viel mit meinen ­Mitgefangenen geredet, was sehr lehrreich war. Ich bin froh darüber, dass ich aus der Zeit dort etwas mitnehmen konnte. Der Knast ist ein zweischneidiges Schwert; es ist an dir, ALS was und MIT was du rausmarschierst. Das Gefängnis trennt uns von den Menschen, die wir lieben, von der Gesellschaft und der Technologie. Aber auf der anderen Seite gibt uns gerade das viel Raum, um an unserer eigenen ­Entwicklung zu arbeiten. Wenn du diesen Raum ­allerdings nicht füllst, erledigt das dein Selbstmitleid von ganz allein. Dann kannst du wie die meisten da hocken und alle – nur nicht dich selbst – für dein Unglück ­verantwortlich machen.
 
Wie hast du deine Zeit dort verbracht?
Bevor ich einen Knastjob angefangen habe, war ich 22 Stunden am Tag in meiner Zelle eingeschlossen. 22 Stunden, die ich selbst mit etwas Produktivem füllen musste. Zwei Stunden täglich werden die Zellen aufgeschlossen. Dann treffen sich die etwa 300 Häftlinge des Traktes und irren umher, joggen, kämpfen oder spielen Karten oder Schach. Später, als mir das Privileg zuteil wurde, arbeiten zu dürfen [tatsächlich ein Privileg denn die Warteliste im Knast ist nicht zuletzt aufgrund der Überbelegung lang, Anm. d. Verf.] hat sich mein Tagesablauf verändert. Ab dann hieß es um 6 Uhr aufstehen und bis 13:30 Uhr arbeiten. So hatte ich dann ein paar Stunden mehr Ausgang.
 

 
Es war sehr schwierig, mit dir über Briefe in Kontakt zu bleiben. Wie schwierig war die Kommunikation mit der Außenwelt?
In meiner Zeit dort durfte ich nur über Briefe mit der Außenwelt kommunizieren. Besuche oder Telefonate waren ­grundsätzlich ­verboten. Während der Untersuchungshaft darfst du deine Briefe nicht schließen, damit sie durch das Gefängnispersonal und gegebenenfalls durch den Ermittlungsrichter gelesen und kopiert werden können. Wie du also anhand unserer Kommunikation sehen konntest, ist der Ablauf wie folgt: Wenn ich dir heute einen Brief schicke, kommt der in vielleicht drei Wochen bei dir an. Deine Antwort wiederum braucht dann noch einmal zwei Wochen, bis sie bei mir landet. Abgesehen von der Verzögerung war das Schreiben aber eine großartige Wieder­entdeckung, und sowohl das ­Schreiben als auch das Empfangen von Briefen waren wohl die besten Momente, die ich im ­Gefängnis hatte. Mein größter Dank gilt daher allen, die mir geschrieben haben!
 
Was für Leute hast du kennengelernt?
Ein Gefangener ist ja kein bestimmter Typus Mensch. Deswegen kann man darüber auch keine generellen Aussagen treffen. Alle Menschen, die ich im Knast ­kennengelernt habe, sind unterschiedlich gewesen. Es gab solche, die im Gefängnis schon ganz gut aufgehoben sind, weil von ihnen eine ­konkrete Gefahr für die ­Gemeinschaft ausgeht. Das sind aber vielleicht 5% im Vergleich zu den 95%, die einfach ­mittellos und bestenfalls für ­Kleinvergehen dort sind. Der französische Knast ist eine ­Verwahrungsstelle für die Armen der ­Gesellschaft. Ich habe viele gute Menschen dort zurückgelassen als ich rauskam. Ich hoffe auf Gerechtigkeit für sie alle. Natürlich ist kein Land der Himmel und kein Rechtssystem perfekt, aber die Erfahrungen, die ich in Frankreich gesammelt habe, haben meine Illusion von Recht und Gerechtigkeit in der »Grande Nation« zerstört.
 
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Geht es bei dir jetzt wieder mit The Grifters weiter? Wie sehen deine Pläne aus?
Natürlich geht The Grifters weiter: ­höher, schneller, weiter! The Grifters ist ­meine ­Herzensangelegenheit. Es ist eben nicht das, was zu sein es jetzt von ­Kleinbürgerlichen beschuldigt wird: eine kriminelle ­Vereinigung, die Jugendliche über Fotos und Videos zum Klauen und Koksen animiert! Wir haben ein Abbild unserer Subkultur gezeigt, manchmal verzerrt, manchmal als Parodie. Es ist trotzdem ein Lifestyle, der da draußen existiert. Es ist aber auch ein Lifestyle, der vor uns medial nicht existent war. In der Zeit, in der ich einsaß, habe ich viele Ideen entwickelt und Projekte konkretisiert. Jetzt, wo ich frei bin, ist es an der Zeit, sie zu realisieren! Ich möchte niemandem die Überraschung kaputt machen, aber denen, die fragen, ob das jetzt das Ende war, antworte ich: Das war gerade erst der Anfang. ◘
 
Text & Fotos: Sylvain
 
Dieses Interview ist erschienen in JUICE #162 (hier versandkostenfrei nachbestellen).
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