Berlin Kidz: »Die Praxis des Abseilens ist etwas ganz Neues, das hat vor uns noch keiner gemacht.« // Interview

-

 
Sie fahren auf Dächern von Bussen und U-Bahnen spazieren, vollführen waghalsige Parkour-Stunts in BVG-Stationen, klettern auf Hausdächer und seilen sich von dort ab – was die Jungs von ÜF in ihrem Film »Berlin Kidz – 100% reines Adrenalin« alles so veranstalten, lässt dem Zuschauer den Atem stocken. Im Gegensatz zu manch anderem urbanen Kletterkünstler geht es bei den »Überfreaks« nicht nur um die Stunts an sich, vielmehr besteht ihre Mission darin, das Stadtbild auf eine neue Art und Weise zu gestalten. Wer mit offenen Augen durch Berlin spaziert und sich fragt, wie diese allgegenwärtigen roten und blauen Kalligrafie-Schriftzüge an unmöglich zu erreichende, kahle Hauswände gelangen konnten, dem sei hiermit erklärt: Da hingen wohl eines Nachts die Menschen von ÜF an einem Kletterseil und sprühten ihre Zeichen. Und ja, das ist gefährlich. Und nein, die »Überflieger« sind keine lebensmüden Verrückten. Ganz im Gegenteil: Um so etwas zu machen, braucht es nicht nur Mut, sondern vor allem Skills und einen klaren Kopf – das betonen die ÜF-Abgesandten Laura und Dennis im Gespräch immer wieder.

Ihr seid vor allem für Tags an unmöglichen Stellen bekannt. Dafür seilt ihr euch von Dächern ab. Wie lange macht ihr das schon?
Dennis: Zum Abseilen bin ich durch Life gekommen, das war Ende 2012. Da ging es gleich mit der ersten Abseilgeschichte los. Also erst relativ spät in meiner Sprüherkarriere, schließlich ist das das ja auch die Königsdisziplin. Ich hatte vorher ziemlich große Höhenangst. Erst dadurch, dass ich Klettern ging und mich mit Parkour beschäftigte, konnte ich die Angst irgendwann überwinden und mich schließlich ans Abseilen wagen.

Seit wann gibt es ÜF?
Laura: ÜF gibt es eigentlich schon seit 2003, aber richtig durchgestartet sind wir erst 2012. Es sind immer mehr Leute dazugekommen, es hatten einfach so viele Bock darauf. Auf die Action, aber auch auf das Dokumentieren der ganzen Sache mit coolen Videoaufnahmen. Das spielt für uns auf jeden Fall eine sehr große Rolle. Wir wollen am Ende etwas Freshes in der Hand haben, das man sich anschauen und anderen zeigen kann. Dabei geht es uns nicht darum, damit anzugeben, im Gegenteil. Wir wollen einfach anderen zeigen, wie das, was wir da machen, funktioniert. Trains und das ganze Gebombe, das gibt es doch schon so lange. Die Praxis des Abseilens hingegen ist etwas ganz Neues. Das hat vor uns noch keiner gemacht.

Wie viele Leute seid ihr eigentlich?
Dennis: Der Kern beschränkt sich auf nur fünf bis sechs Mann, aber natürlich gehören da eigentlich noch viel mehr Leute dazu: Wir sind Kameramänner, Trainsurfer und Sprüher. Wenn man die alle zusammenrechnet, dann sind wir wiederum schon ziemlich viele. Namen nennen wir jetzt aber keine, die müssen wir sowieso recht schnell ändern. Die Bullen sind da natürlich hinterher, dadurch kann man nicht besonders lange ein und denselben Namen malen – vor allem, wenn man das in so auffälligen Farben wie rot und blau macht (lacht). Es ist viel besser, wenn man mal eben seinen Namen wechselt – sonst macht man es den Bullen viel zu einfach. Denen sind wir dann doch lieber einen Schritt voraus. (grinst)

Gehört die mediale Umsetzung von Aktionen heutzutage notwendigerweise dazu, um auf sich aufmerksam zu machen?
Laura: Also wenn man in Kreuzberg, Neukölln und Friedrichshain unterwegs ist, dann spielt das eigentlich keine allzu große Rolle. Für Leute von Außerhalb wiederum ist das, was wir machen, natürlich schon interessant. So etwas hat man einfach noch nicht gesehen. Global gesehen ist es also natürlich wichtig, dass man so ein Video hat. Damit kann man zeigen, dass es einen gibt, aber auch WIE man das alles macht. Aber natürlich darf man auch nicht zu viel zeigen, schließlich ist das ja unser Geheimrezept. Klar, das was wir machen hat viel mit Mut zu tun, aber man muss auch Peilung von der Technik haben. Wir sind zwar keine ausgebildeten Kletterer, aber bringen uns selbst immer mehr bei. Jeder macht das, was er sich zutraut, keiner wird zu irgendwelchen gefährlichen Sachen gezwungen – wir wollen einfach Spaß haben. Das Abseilen gibt einem natürlich einen Kick. Es gibt Leute, die zahlen 150 Euro für so eine Abseil-Action in einem Kletterkurs. Wir hingegen seilen uns von einem Dach ab, sprühen dabei und haben so beides mit im Boot.

Was gab für euch den Ausschlag, sich solche Spots zu suchen: das Adrenalin beim Abseilen oder die dadurch bessere Sichtbarkeit eurer Arbeit?
Dennis: In Sachen Spots wurde in Berlin einfach schon alles gemacht. Bis zur ersten Etage ist einfach jede Hauswand vollgesprüht. Wenn man sich bei jemandem auf die Schulter stellt, dann kommt man vielleicht mal ein Level höher, aber das war’s dann auch. Natürlich sieht man aber trotzdem immer wieder interessante Stellen, ohne jedoch zu wissen, wie man da raufkommen soll. Da kommt einem ganz natürlich die Idee, sich einfach ein Seil zu schnappen und sich dort abzuseilen. Dadurch ist einfach alles möglich, weil es für uns eben keine unmöglichen Stellen mehr gibt.
Laura: Eben. Wir haben einfach unendlich viele Spots zur Verfügung. Platz ist ja überall. Und ich persönlich fühle mich sicherer, wenn ich mich abseile, als wenn ich mitten auf der Straße stehe und ein Bild male. An sich machen wir ja nur Tags, aber dadurch, dass wir sehr kalligrafisch arbeiten und uns abseilen, ist das, was wir tun, vom Aufwand her schon vergleichbar mit einem normalen Bombing.
Dennis: Das ist nicht mehr dieser normale Tag-Style, sondern ein Mix aus Kalligrafie und Brasilien-Style, nur mit mehr Schwung.

Eine andere Berliner Crew, die vor euch vor allem dadurch Aufmerksamkeit erregen konnte, dass sie schwer zugängliche Spots malte, ist 1UP. Wie viel Einfluss hatte deren Arbeit auf euch?
Dennis: Als ich aufgewachsen bin, hab ich natürlich mitbekommen, was für riesige Bombings und Rooftops die gemalt haben. Und da hab ich mich natürlich auch gefragt, wie die da hochkommen, wie die in die Häuser reinkommen. Und da gehört es eben auch mal dazu, dass man ein Brecheisen mitnimmt und eine Tür aufmacht. Aber das ist nicht so unser Ding, wir wollen nichts kaputtmachen.
Laura: Als ich jünger war, hab ich auf jeden Fall zu den Jungs aufgeschaut. Und das tue ich immer noch, aber Idole in dem Sinn sind die nicht. Man kennt sich ja auch. 36er-Hood-Connections halt. (lacht)

Wie bringt man sich das Abseilen eigentlich bei? Geht man einfach los, kauft sich ein Seil und klettert auf ein Dach?
Laura: Natürlich macht man sich auch Gedanken über die Sicherheit. Wir gehen das durchaus professionell an. Wie man das genau macht, das soll sich schon jeder selber klarmachen. (lacht) Wichtig ist vor allem, wo man sich festmacht. Da steckt das größte Risiko drin.
Dennis: Viele Dächer sind einfach nicht gerade, es gibt Ecken und Kanten. Und wenn du da nicht weißt, wie du dein Seil auslegst, dann kannste auch ganz schnell mal abrutschen und im Hof landen.

Wie oft wird so was brenzlig?
Dennis: Brenzlig wird es, wenn du unter Zeitdruck stehst. Wenn du weißt, du bist schon viel zu lange am Spot und malst schon seit Ewigkeiten, und denkst, es sollte schneller gehen – dann kann es passieren, dass du Fehler machst. Man muss schon mit einem klaren Kopf bei der Sache sein. Und wenn du bemerkt wirst, musst du halt schnell wieder unten sein, deine Sachen gepackt haben und den Fluchtweg ausgecheckt haben. Sonst bist du ganz schnell weg vom Fenster.
Laura: Du musst die ganze Sache einfach relativ ruhig angehen, Hektik ist ganz schlecht. Ich werde auf jeden Fall lieber gebustet, als dass ich draufgehe. Auf jeden Fall sollte man sich keinen Stress machen, auf gar keinen Fall besoffen oder bekifft so was starten. Man braucht dafür einen klaren Kopf.
Dennis: Was viele ja auch nicht bedenken: Das ist ja one-way, es geht nur runter, nicht nach oben. Wenn du da mal hängst, ist das der einzige Weg. Und wenn der versperrt ist, dann isses vorbei.

Als ich eure Sachen zum ersten Mal bemerkt habe, dachte ich zunächst, dass ihr über Baugerüste da hochgekommen seid. Erst nach und nach wurde mir klar, dass ihr euch abgeseilt haben müsst. Durch das Video ist das nun für alle ersichtlich. Habt ihr darüber diskutiert, ob ihr eure Technik offenlegen solltet oder nicht?
Laura: Ja, vorher war das natürlich eher ein Mythos. Man sieht hier in Berlin hohe Spots eigentlich immer dann, wenn da vorher ein Baugerüst stand. Es ist schon ein Risiko, dass wir jetzt zeigen, wie man das alles macht.
Dennis: Dadurch, dass wir diesen Film geplant haben, musste es ja irgendwann rauskommen. Aber jeder, der wirklich Ahnung von Graffiti hat, checkt ja auch, dass wir uns abseilen. Ich glaube nicht, dass wir damit ein großes Geheimnis gelüftet haben.

Den neuen von Good Guy Boris produzierten Film »Über Freaks« gibt es hier zu sehen, außerdem ist dessen neues Buch »Grifters Code: Documenting Modern Graffiti Writing« erschienen.

Text: Marc Leopoldseder
Fotos: Thomas Von Wittich

Dieser Artikel ist erschienen in JUICE #157 mit Kollegah-Cover und JUICE-CD #122: hier versandkostenfrei nachbestellen.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein