Kings Of HipHop: Ice-T

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Ice-T at 57th St Subway, NYC 15th February 1993

Die Frage ist nicht, ob du Tracy Marrow kennst. Die Frage ist nur, woher du ihn kennst: als Detective Fin Tutuola aus »Law & Order: Special Victims Unit«? Als älteren Staatsmann, der kurz mal Beef mit Soulja Boy hatte? Als Stimme von Madd Dogg aus »GTA: San Andreas«? Aus Klassikern des Neunziger-Jahre-Gangsterkinos wie »New Jack City« oder »Trespass«? Aber das sind alles Nebenschauplätze. Natürlich kennst du ­Tracy Marrow. Den ersten Rapper aus L.A., der in New York respektiert wurde. Den ersten Rapper, der eine Heavy-Metal-Band gründete. Den ersten Rapper mit ­einer Schauspielkarriere. Den ersten Rapper, über den sich ein Präsident öffentlich ­echauffierte. Den ersten Rapper, der ein Buch schrieb. Den ersten echten Gangsta-Rapper: Ice-Motherfuckin’-T, O.G.
 
Tracy Marrow, dessen Rap-Laufbahn untrennbar mit South Central Los Angeles verbunden ist, kommt 1958 an der Ostküste zur Welt, in ­Newark, New Jersey. Mit seinen Eltern lebt er in Summit, einem ruhigen, bürgerlichen Städtchen in New Jersey, wo er eine nicht weiter aufregende Kindheit verbringt. Sein Vater Solomon ist Afroamerikaner, seine Mutter Alice kommt aus einer kreolischen ­Familie, und Tracys ­helle Hautfarbe lässt ihn alltäglichen ­Rassismus im Kindesalter ganz beiläufig erleben, wenn etwa weiße Freunde andere dunkelhäutige Kids nicht zum Spielen einladen, weil die Eltern keine »Darkies« im Haus haben wollen. Tracy realisiert, dass er weiß genug aussieht, um irgendwie dazuzugehören. Verständnis für diese willkürlichen Unterscheidungen kann er nicht aufbringen. Und dazugehören will er auch nicht um jeden Preis.

Als Tracy acht ist, stirbt seine Mutter an einem Herzinfarkt. Sein schweigsamer, eher gefühlskalter Vater und dessen nebenan lebende Schwester kümmern sich um Tracy. Der kommt, nachdem ihm sein Fahrrad gestohlen wird, auf die Idee, aus geklauten Einzelteilen neue Fahrräder zusammenzuschrauben – ein erster zaghafter Schritt in eine Richtung, die später viel größere Bedeutung erlangen wird. So plötzlich wie seine Mutter stirbt auch Tracys Vater. Der Junge ist gerade zwölf und begreift: Er muss alleine klarkommen. Für ein paar Monate lebt er bei seiner Tante nebenan, bevor er zu deren Schwester nach Los Angeles zieht – eigentlich, so wird ihm gesagt, nur für die Sommerferien. Wenig später werden all seine Sachen hinterhergeliefert, und Tracy bleibt in Los Angeles.
 
Tracy lebt mit seiner nicht ganz freiwilligen Familie in View Park, einem vorwiegend von Afroamerikanern der oberen Mittelklasse bewohnten Örtchen, und besucht eine überwiegend weiße Junior High School. Anders sieht es dann an der Crenshaw High School aus. Crenshaw High liegt im gebeutelten South Central Los Angeles, das als Ground Zero der Gangaktivitäten und -rivalitäten an der Westküste gilt. Tracy erlebt in der fast ausschließlich von Schwarzen besuchten Schule hautnah, wie immer mehr Mitglieder der Crips und Brims (später Bloods) in den Gängen aufeinandertreffen und Machtkämpfe austragen – massiv einschüchternd für einen 14-, 15-jährigen Freshman. Tracy selbst tritt nie formal einer Gang bei, steht aber durch seinen Freundeskreis den Crips nahe und trägt ganz selbstverständlich deren Farben und Erkennungszeichen, während die Brims nach und nach von der Schule verdrängt werden. Crenshaw wird Territorium der Hoover Crips.
 
Mit der Behelfsfamilie in View Park wird Tracy nicht so recht warm. Seine Tante, eine ­Sozialarbeiterin, bezeichnet er als ­Alkoholikerin und Heuchlerin, während er selbst komplett nüchtern bleibt und zugunsten der Selbstkontrolle auf Alkohol, Zigaretten und sonstige Drogen verzichtet. In seinem Umfeld ist er damit natürlich eine Ausnahme. Schon mit 17 verabschiedet er sich aus dem Haushalt und bezieht eine eigene Wohnung in South Central, die zum de-facto-Hangout seiner Crew wird. Miete und Alltag bezahlt er von den 225 Dollar, die ihm monatlich als Waisenrente zustehen, aufgebessert durch kleine Diebstähle, geklaute Autoradios, ein wenig Gras-Tickerei, dies und das eben.
 
What’s a brotha ­supposed to do?
 
1976 schließt er die High School ab, schreibt sich an einer technischen Hochschule ein und weiß immer noch nicht so recht, was für Ambitionen er entwickeln könnte. Als seine Freundin schwanger wird, will Tracy das Kind auf jeden Fall behalten und für es sorgen können. Dazu schlägt er den Weg ein, der für ihn das sicherste Einkommen verspricht: Er geht für vier Jahre zur 25. US-­Infanteriedivision der US Army und wird auf Hawaii stationiert. Als unverheirateter Vater wird er Ende 1979 ehrenhaft aus der Army entlassen, kehrt zurück nach South Central und erlebt zwei ganz ­fundamentale Veränderungen. Erstens: Es gibt jetzt Rap-Musik auf Platte und im Radio. Was der Junge schon vor Jahren getan hat – Reime rezitieren, entweder von seinem Lieblingsautor Iceberg Slim (»Pimp«) oder selbst erdachte »Crip Rhymes« –, ist plötzlich ein Geschäft geworden. Und zweitens: Auf den Straßen herrscht Krieg. Die Gangs sind bis an die Zähne bewaffnet, rachsüchtig und ungleich brutaler als wenige Jahre zuvor, Drive-Bys mit Maschinenpistolen sind an der Tagesordnung.

Tracy, der in der Army günstig Hi-Fi-­Equipment zusammenkaufen konnte, will mit dem Gangbanging möglichst wenig zu tun haben und verfolgt den Plan, als DJ und ­Partyveranstalter Geld zu machen. Bald bemerkt er, dass seine zwischendurch vorgetragenen Raps mehr Aufmerksamkeit bringen als das Herumschleppen einer Anlage. Er schließt sich mit den Brüdern Evil E. und Hen Gee zusammen, den New York City Spin Masters, und macht sich als Ice-T einen Namen in der lokalen Partyszene. Nur, wirklich lukrativ ist das noch nicht, und Props zahlen nicht die Miete. Tracy, Veteran der US Army und inzwischen von der Mutter seiner Tochter getrennt, beginnt neben dem Rap-Nachtleben eine kriminelle Laufbahn, die ihn fast das Leben gekostet hätte.
 
In seiner Autobiografie »Ice« widmet Ice-T diesem Lebensabschnitt – Verjährungsfristen sei dank – ein ausführliches Kapitel, in dem er davon erzählt, wie er mit seiner Crew immer ausgeklügeltere Raube und Überfälle plant und durchführt. Die Opfer sind meist Juweliere, Pelzgeschäfte und ähnliche Fachhändler für Hochpreisiges, die Werkzeuge gehen selten über einen Vorschlaghammer, gute Planung und starke Nerven hinaus. Vor dem Einsatz von Waffen schreckt Ice zugunsten einer sicheren Fluchttaktik immer zurück. Der Aspekt der vorausschauenden Überlegung und strategischen Organisation der Aktionen ist für ihn genauso wichtig wie der materielle Gewinn. Amateure, die in fluchtuntauglichen Lederslippern antreten, sind ihm ebenso zuwider wie aggressive Kids, die in ihrer eigenen Hood Geschäfte ausräumen. Dieser spezialisierte Hustle in einer Zeit vor DNA-Datenbanken und ­lückenloser Videoüberwachung ist für Ice das Gegenteil der impulsiven, brachialen und territorialen Gang-Gewalt, ein Spiel, das er beherrschen kann. Zumindest bis zu der Nacht, in der eben doch ein ­bewaffneter Wachmann auftaucht und direkt hinter dem flüchtenden Ice das Feuer eröffnet. Er verfehlt.
 
Bash for the jewels, baby sledgehammers were the tools
 
Das Risiko wird mit der Zeit größer, die Sicherheitsmaßnahmen besser, immer mehr verlässliche Partner ­übernehmen sich und werden gefasst. Statt dem Trend zu bewaffneten ­Raubüberfällen zu folgen, zieht Ice sich aus dem Geschäft zurück. Beeinflusst von Iceberg Slims Geschichten und einem einschlägig ­berufserfahrenen Kerl namens Mac, den er aus der Army kennt, übt er sich vorübergehend in Zuhälterei. Dass er mit Musik seinen un­bescheidenen Lebensstil mit Porsche und Wohnung in Hollywood finanzieren könnte, hat er sich eigentlich schon abgeschminkt, als er beim Frisör seines ­Vertrauens – er lässt sich gerade die ­Dauerwelle erneuern – auf Willy Strong trifft. Strong hört Ice-T, so will es die Legende, vor sich hinreimen, und nimmt mit ihm 1983 »The Coldest Rap« für sein Label Saturn Records auf. Der Song, ein für L.A. damals recht ­typisches Stück Electro-Funk, wird ein lokaler Verkaufserfolg. Dass der angesagte Club The Radio in Westlake »The Coldest Rap« rauf und runter spielt, erfährt Ice erst, als sie ihn zu einem Auftritt einladen. Und als er auf der Bühne steht und erlebt, wie ein Club voller wildfremder weißer, hipper Kids seine Strophen mitrappt, versteht er: Damit wäre vielleicht doch sauberes Geld zu machen.
 

 
The Radio engagiert Ice-T als ­hauseigenen MC zu einer Zeit, als der Club zu einem Westküsten-Äquivalent des New Yorker Roxy wird. Madonna trifft auf Malcolm McLaren, HipHop trifft auf Punk, New Wave auf Ices Hustler-Freunde aus South Central. Die endgültige Entscheidung für eine legale Karriere fällt, nachdem Tracys enger Freund Sean E. Sean eine Haftstrafe auf sich nimmt – unter anderem wegen Diebesgut, das er für Tracy bunkert – und er selbst nach einem ­schweren Autounfall wochenlang im L.A. County Hospital liegt.
 
Frisch entlassen und noch humpelnd ­gewinnt Ice-T einen Rap-Wettbewerb, bei dem Kurtis Blow als Juror fungiert. Die Tatsache, dass ein echter, erfolgreicher Rapper aus New York ihm Talent zuspricht, gibt Ice-T noch mehr Selbstvertrauen als sein kleiner Hit. Uncle Jamm’s Army, das erfolgreichste HipHop-Veranstalterteam der Stadt um die DJs Egyptian Lover und Bobcat, lässt ihn auf ihren Partys rappen. In dem ­Dokumentarfilm »Breakin’ ’N’ Enterin’« gibt Ice-T den HipHop-Stadtführer, und das seichte ­fiktionale Remake »Breakin’«, das im The Radio gedreht wird, ist 1984 sein ­Kinodebüt. Mit David Storrs und DJ Chris »The Glove« Taylor, die er aus dem Club kennt, nimmt er 1984 »Reckless« auf, das auf dem Soundtrack von »Breakin’« landet. Kurz danach spielt Ice-T in »Breakin’ 2: Electric Boogaloo« und »Rappin’« mit.
 
Just living in the city is a serious task
 
1986 entsteht mit Unknown DJ, der bereits mit Compton’s Most Wanted und King T arbeitet, »Dog ’N The Wax«. Für die ­Veröffentlichung auf Techno Hop Records fehlt nur noch eine B-Seite, für die Ice-T sich von einem Stück von der Ostküste ­inspirieren lässt: »P.S.K. – What Does It Mean?« von Schoolly D aus ­Philadelphia. Die ­bedrohlich reduzierten und verhallten Beats und die Geschichten über Drogen, Sex und Gang-Gewalt (»P.S.K.« steht für die Gang Park Side Killas) faszinieren Ice, der für seine ­Interpretation des Themas Schoolly Ds vage Andeutungen durch ­explizite Erzählungen über all die Dinge ersetzt, die er in den ­vergangenen Jahren erlebt hat. Sieben Minuten lang erzählt Ice von Cops und Waffen, Gewalt, Sex und Crack. Damals ist das eine Revolution und wird schnell zum Untergrund-Hit, der auch in New York Beachtung findet und im Folgejahr zu Ice-Ts erstem Album führt.
 

 
Jorge Hinojosa, der bis heute Ice-Ts Manager ist, ist gerade 19, versteht mehr von Rock und New Wave als von Rap und arbeitet als Praktikant bei Island Records, als er auf seinen Klienten trifft. Nach einigem Klinkenputzen konzentriert sich das eloquente Duo auf den Markt für College-Kids und Alternative-Rock-Fans, wo die Reaktionen positiver sind als in den längst noch nicht HipHop-dominierten Black-Music-Abteilungen der großen Labels. So landen sie im Büro von Seymour Stein, der beim Entertainment-Riesen Warner Bros. das Label Sire Records mit Künstlern wie Depeche Mode, Talking Heads, Blondie und Madonna verantwortet und in Ice-T einen modernen Bob Dylan sieht. Für einen Vorschuss von 40.000 Dollar unterschreibt Ice bei Sire und wird der erste Rapper des Warner-Konzerns.
 
Während Ice-T Freundschaften im Hause Warner schließt, schreibt der 18-jährige O’Shea Jackson, der Welt bald besser bekannt als Ice Cube, für den Hustler und aufstrebenden Rapper Eazy-E den Text zu »Boyz-N-The-Hood«. Der Song bedient sich inhaltlich und musikalisch äußerst freimütig bei »Six ’N The Mornin’«, legt den Grundstein für die Karriere von N.W.A. und vervollständigt den Dreisatz, der seinen Anfang in »P.S.K. – What Does It Mean?« hat und historisch als Ursprung von Gangsta-Rap gelten muss.
 
Im November 1987 erscheint »Rhyme Pays«, Ice-Ts erstes Album, produziert von seinem New Yorker Verbündeten Afrika Islam. Und während schon absehbar ist, dass N.W.A. das Thema Gangsta-Rap ­mutwillig und fantasievoll auf die Spitze treiben, legt Ice großen Wert darauf, realistische Texte zu schreiben und nahe an seinem weiten Erfahrungshorizont zu bleiben. Das fängt schon beim Cover an: Der ­weinrote Porsche ist natürlich sein eigener, die Palmen im ­Hintergrund weisen im New-York-­dominierten Rapgeschäft deutlich auf Los Angeles hin und die spärlich bekleidete Frau auf dem Beifahrersitz ist seine Freundin Darlene Ortiz, die er am Set von »Breakin’« kennengelernt hat. (Die Hunnis auf der ­Rückseite sind natürlich auch echt.)

My style is topical, vividly optical

»Rhyme Pays«, das erste Album mit ­»Parental Advisory«-Aufkleber, ist mit seinen Sex-und-Crime-Angebereien ein Erfolg und geht im ersten Jahr ohne Video und Radio-Airplay Gold. Ice-T geht mit N.W.A. auf Tour und schart das Rhyme Syndicate um sich, ein Kollektiv, dem auch DJ Evil E, DJ Aladdin, DJ Muggs, Def Jef und der junge Everlast angehören. Für »Colors«, einen Film von Dennis Hopper, der schön belegt, wie der aufregende Gangsta-Chic allmählich die Vorstädte erreicht, liefert Ice-T den ­atmosphärischen Titelsong, der sich an »Mythological Rapper« von King Sun orientiert und ein Rick-James-Stück ersetzt. Schon im September 1988 erscheint ­»Power«, das zweite Album, das in so ­ziemlich jeder Hinsicht das Konzept des Erstlings fortsetzt und erfolgreich verfeinert. Das ikonische Cover mit der schwer ­bewaffneten Darlene Ortiz, die MTV-kompatible Drogenmetaphorik von »I’m Your Pusher« (mit LL-Cool-J-Diss und Curtis-Mayfield-Hook) und die ­Selbststilisierung des Ice-T als mächtiger, potenter und gefährlicher Player festigen seinen Status.

https://www.youtube.com/watch?v=KP0OaUOQGCg

Dabei muss man verstehen, dass Ice den Gangsta-Lifestyle nie glorifiziert. Er ­glorifiziert Erfolg, ja: finanziellen Erfolg, Erfolg beim anderen Geschlecht. Aber seine Straßengeschichten haben kein Happy-End, sondern enden hinter Gittern, auf der Flucht oder dem elektrischen Stuhl. Diese ­moralistische Ebene hebt Ice vom Gros des frühen Gangsta-Rap ab und erinnert eher an die Wandlung von KRS-One, der auf dem ersten BDP-Album auch noch wild um sich schießt. Mit seinem dritten Album wird Ice-T nicht nur politischer, sondern auch düsterer, aggressiver und frustrierter. »The Iceberg/Freedom Of Speech … Just Watch What You Say!« (1989) reflektiert ständige Zensurprobleme und nicht zuletzt den Einfluss von »It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back« von Public Enemy.

Als diese künstlerische Entwicklung und inhaltliche Fokussierung 1991 in »O.G. Original Gangster« mündet, ist Ice-T längst ein Multi-Millionen-Dollar-Unternehmen. Seine Rolle in »New Jack City« an der Seite von Wesley Snipes etabliert ihn als ernsthaften Schauspieler, bald gefolgt von Rollen in »Ricochet« und »Trespass«. »O.G.« gilt trotz einer gewissen Überlänge weithin als sein bestes Album, verzichtet konsequent auf Sex-Geschichten und ist dank brillanter ­Momente wie »Midnight« (einem Prequel zu »Six ’N The Mornin’«) und »New Jack Hustler« ein abschließendes Monument der Gangsta-Rap-Ära vor dem Aufkommen von G-Funk. Auf dem Album, das auch ­vollständig verfilmt und auf VHS ­veröffentlicht wird, stellt Ice-T zudem Body Count vor, eine Metal-Band, die er mit seinen High-School-Freunden Ernie C, Beatmaster V, Mooseman und D-Roc gegründet hat. Auf der ersten Lollapalooza-Tour spielt Ice-T neben Rock- und Indiegrößen ein einstündiges Set, das zur Hälfte von der neuen Band bestritten wird. Und wie immer, wenn’s so gut läuft, lassen die Probleme nicht lange auf sich warten.
 
There goes the ­neighborhood
 
Body Count ist nicht Rap, nicht Crossover, sondern versteht sich als Rockband durch und durch. Dass Ice-T nicht besonders profiliert singt: geschenkt. Auch das Gebot des Realismus, das Ice für seine Rap-Alben aufgestellt hat, gilt hier nicht. Body Count ist Grindhouse, hemmungslos übertrieben, oft brutal und manchmal albern, eine drastisch gezeichnete Graphic Novel aus unterschiedlichsten Blickwinkeln. Auf dem ersten Album geht es um Voodoo-Praktiken, um das Eigenleben eines bösen Penis und um Sex mit den zwölfjährigen Nichten von Senatorengattin Tipper Gore, die sich seit 1985 mit ihrem Parents Music Resource Center gegen inakzeptable Songtexte einsetzt. Und es geht in dem Song »Cop Killer« um einen Jugendlichen, der wieder und wieder Polizeigewalt erlebt, bis er schließlich durchdreht und Polizisten erschießen geht.

Das Album »Body Count« erscheint im März 1992 über Sire/Warner. Ursprünglich soll es »Cop Killer« heißen, nach Bedenken des Labels entscheidet man sich aber für den neutraleren Titel. Ein gewisses Bewusstsein für die Tatsache, dass man sich da mit einer mächtigen Lobby anlegen könnte, ist also vorhanden, zunächst passiert aber wenig. Das Album geht Top 30 und stagniert bei etwas über 200.000 Einheiten. Die ­Albumversion von »Cop Killer«, einem zum Zeitpunkt des Releases schon über ein Jahr alter Song, stellt einen direkten Bezug zum Fall des ­Afroamerikaners Rodney King her, der von vier Polizisten brutal ­verprügelt wurde, und erwähnt den Namen des ­damaligen ­Präsidenten des LAPD. Als Ende April die vier Angeklagten von einer weißen Jury freigesprochen werden, kommt es in Los Angeles zu schweren Ausschreitungen. Die Medien entdecken Ice-T als gesprächigen und kontroversen Interviewpartner zum ­Thema, der sich öffentlich mit den aufgebrachten Menschen auf den Straßen solidarisiert. Die Unruhen enden nach fünf Tagen mit über 2.000 Verletzten, 53 Toten und 11.000 Festnahmen.

Wenige Tage später weist ein ­Rundschreiben der Dallas Police ­Association darauf hin, dass ein ­»neuer Rap-Song« (sic!) namens »Cop Killer« zum Mord an Polizisten aufrufe, und dass Time Warner als Mutterkonzern dafür die ­Verantwortung trage. So wird eine ­Lawine von ­Skandalisierungen und ­Boykottaufrufen gegen eines der ­größten Unternehmen der USA in Gang gesetzt, der sich nach und nach immer größere ­Polizeiorganisationen, die National Rifle ­Association unter Charlton Heston sowie zahlreiche Medien und ­konservative Politiker ­anschließen. Tipper Gore zückt einen Hitlervergleich, ­Vizepräsident Dan Quayle und sogar ­Präsident Bush Senior stimmen im Wahlkampf ein und erhöhen den Druck, dem Time Warner in der ­Verteidigung ­künstlerischer Freiheit ­beachtlich ­lange standhält. Zu einer Sitzung von 200 Anzugträgern aus den oberen Etagen des ­Konzerns erscheint Ice-T, begleitet von Fab 5 Freddy als HipHop-kulturellem ­Botschafter, und sichert sich die weitere Unterstützung von Time Warner.
 
Während sich nur die National Black Police Association dem Boykottgeschrei ­verweigert, verzeichnen Ice und Body Count immer wieder einschüchternd starke Polizeipräsenz bei ihren Shows. Gleich dreimal meldet sich das Finanzamt für Buchprüfungen bei Ice an. Einem Händler in North Carolina gegenüber lässt die lokale Polizei durchblicken, dass sie nicht auf Notrufe reagieren würde, solange »Body Count« noch in den Regalen steht. Bei einer Time-Warner-Aktionärsversammlung, an deren Eingang Ice-T mit ausgestrecktem Mittelfinger in einem Rolls Royce vorbeifährt, ergreift Charlton Heston das Wort für einen bizarren Vortrag, der mit seiner Interpretation des Kampfschreis »Die, die, die, pig, die!« endet. Die öffentliche Debatte kreist unsinnig um freie Meinungsäußerung, immer wieder implizierend, dass »Cop Killer« wirklich ein konkreter Mordaufruf sei und kein fiktionales Werk. Als schließlich sogar ­Bombendrohungen gegen die Warner-­Musikabteilung in Burbank auftauchen, hat Ice genug. Um die Belagerung von Warner und die reale Gefahr eines Anschlags abzuwenden, beschließt er, das Album durch eine neue Version ohne »Cop Killer« zu ersetzen. Bis August ’92 haben sich die Verkaufszahlen trotzdem schon mehr als verdoppelt. (Im selben Jahr veröffentlicht Warner Bros. den Film ­»Unforgiven«, in dem Clint Eastwood einen Sheriff erschießt. Der Film gewinnt vier Oscars.)
 
I got a new attitude: no trust
 
Was bleibt, ist die Gewissheit, dass sich ­gerade etwas ganz Grundlegendes im Umgang von Großkonzernen mit Musik – und speziell mit Rap – verändert hat. Das bekommen auch Künstler wie Paris und Kool G Rap zu spüren, von denen Warner sich trennt. Ice bleibt zwar zunächst bei Sire Records, mit Warner angedachte Projekte wie ein Sequel von »New Jack City«, ein DC-Comic und eine TV-Show werden aber nicht mehr umgesetzt. Als Ice-T das gezeichnete Artwork seines Albums »Home Invasion« einreicht, bekommt Sire wegen Details kalte Füße, die vorher nie ein Thema gewesen wären. Ice und sein Manager Jorge erwägen, das Album ohne Cover als »The Black Album« zu veröffentlichen, bitten aber schließlich um Auflösung der Verträge, weil sie verstehen: Ice-T kann innerhalb des Warner-Konglomerats jetzt nicht mehr uneingeschränkt Ice-T sein.
 
Im März 1993 erscheint »Home Invasion« über Priority Records. Die Verkaufszahlen sind gut, die Kritiken aber medioker. Obwohl Ice, der zum zweiten Mal Vater geworden ist, sich unverändert angriffslustig gibt und Charlton Hestons Kopf fordert, wirft man ihm aus der HipHop-Szene heraus vor, klein beigegeben zu haben. Die ­grimmigen Produktionen, hauptsächlich von DJ Aladdin und erstmals ohne Afrika Islam, machen »Home Invasion« zu einer der am besten alternden Ice-T-Platten, die mit »99 ­Problems« auch die Vorlage für den Evergreen von Jay Zs »Black Album« beinhaltet. Auf »Gotta Lotta Love« thematisiert Ice den Friedensschluss zwischen Crips und Bloods. ­Gangsta-Rap hingegen ist inzwischen bei »The Chronic« angekommen, nachdem Dre und Snoop in »Deep Cover« völlig ­unbehelligt Cops erledigen konnten.

Nach 1993 verliert Ice-Ts ­Rapkarriere merklich an Fahrt, während er weiter regelmäßig in Kinofilmen wie »Who’s The Man«, ­»Surviving The Game« (seine erste ­Hauptrolle) oder »Tank Girl« (als seltsamer Känguru-Mutant) mitspielt. Im Buch »The Ice Opinion« legt er seine nicht gerade widerspruchsfreie Weltsicht dar, mit »Born Dead« folgt 1994 ein zweites Body-Count-Album, 1995 arbeitet Ice, vermittelt von Fab 5 Freddy, für die TV-Serie »New York Undercover« erstmals mit Produzent Dick Wolf zusammen, der ihn später zu »Law & Order: SVU« holt.
 
Als im Sommer 1996 »VI: Return Of The Real« erscheint, das sechste Ice-T-Album, ist der Konflikt Ost (Bad Boy) ­gegen West (Death Row) schon extrem aufgeheizt. 2Pac und Ice-T ­treten zusammen in der Fernsehshow »Saturday Night Special« auf, ein sehenswerter Moment, den man auch im Netz findet. Ice versucht sogar, Pac davon abzuhalten, den Bad-Boy-Diss »Hit ’Em Up« zu ­veröffentlichen. »Return Of The Real«, das ein Plädoyer für Oldschool-Gangsta-Rap sein ­möchte, ist leider nur ein fader G-Funk-Aufguss, geprägt von drittklassigen Produzenten, und hinterlässt auf den meisten der 73 Minuten keinen ­bleibenden Eindruck. Dass seine Haupteinnahmen ­inzwischen vom Film ­kommen, gibt Ice sicher eine neue ­Entspanntheit in Sachen Musik. Zu ­bemerkenswerten ­Kreativitätsschüben führt die aber nicht.
 
Talk shit, get shot
 
Es folgt ein weiteres ­redundantes Album von Body Count (»Violent Demise: The Last Days«, 1997) sowie von Ice-T (»The Seventh ­Deadly Sin«, 1999) und ein recht ­unterhaltsames Album der Nerd-Synth-Supergruppe Analog Brothers (»Pimp To Eat«, 2000), bevor Ice den nächsten großen Schritt geht: Produzent Dick Wolf engagiert Ice-T als festes Ensemblemitglied für »Law & Order: SVU«. Dass es kein Widerspruch sein muss, als Gangsta-Rapper einen Cop zu spielen, hat Ice schon früh mit »New Jack City« ­herausgefunden. Das aber regelmäßig im Fernsehen zu tun, mittlerweile übrigens im 14. Jahr, ändert vieles. Nach dem Überfall einer Gruppe bewaffneter Maskierter auf sein Büro in Los Angeles und dem Ende ­seiner Beziehung mit Darlene fällt es Ice relativ leicht, seinen Lebensmittelpunkt nach New York zu verlegen, wo gedreht wird. Er konzentriert sich auf die Schauspielarbeit und auf einen kleinen Freundeskreis um seinen alten Homie Sean E. Sean. Als ­Detective Fin Tutola wird Ice zum ruppigen Publikumsliebling auf NBC.
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2001 heiratet Ice das rund zwanzig Jahre jüngere Model Coco Austin, die heute auch viele organisatorische Aufgaben übernimmt. Auf dem schwierigen Cover des gar nicht so furchtbaren Spätwerks »Gangsta Rap« (2006) ist sie nackt auf ihrem unbekleideten Mann drapiert. 2011 lässt sich das Paar für die Reality-Show »Ice Loves Coco« filmen.

Im Vorfeld des Kollabo-Albums »Urban ­Legends« mit Analog-Brothers-Kollege Black Silver richtet Ice 2008 ein paar deutliche Worte an Soulja Boy, wirft ihm vor, HipHop auf dem Gewissen zu haben, und bezeichnet den Klingeltonhit »Crank That« als »Müll«. Der Boy reagiert auf Youtube mit schalen Witzen über Ice-Ts Alter, seinen Geburtsort und die Tatsache, dass er einen Cop spielt, obwohl er einen Song namens »Fuck The Police« (sic!) gemacht habe. Nach ein wenig Geplänkel rudert Ice vorsichtig zurück und sagt, seine Aussagen seien nicht zur ­Veröffentlichung bestimmt gewesen. Er sei aber allgemein frustriert über die Oberflächlichkeit und den Mangel an Substanz und Skills im aktuellen Rap.
 
Mit dem Film »Something From Nothing: The Art Of Rap«, der 2012 erscheint, geht Ice-T als Regisseur das Thema in einer Reihe von Interviews etwas sinnvoller an und lässt anerkannte und einflussreiche Rapper von Big Daddy Kane bis Kanye West über ihre Inspiration und über die Kunstform Rap sprechen. In einem schönen Zirkelschluss überrascht ihn Eminem mit einer Strophe aus »Reckless«, das Ems erste Begegnung mit Rap war.
 
Heute ist Ice-Ts letztes Soloalbum acht Jahre her, seine Bulldoggen heißen King Maximus und ­Spartacus, und ausgerechnet ein neues ­Body-Count-Album schafft es, den Mann mit Mitte fünfzig noch einmal in Mikrofonform zu ­bringen: ­»Manslaughter« ist so over-the-top, archaisch und blutrünstig wie das Debüt der Gruppe, von deren Urbesetzung heute nur noch Ice und Ernie C am Leben sind. »Manslaughter« lässt auch mehr Platz für laute Rap-Parts und erobert nebenbei sogar »99 ­Problems« zurück. Hier hat Ice genau die Freiheit, die er sich im HipHop-Kontext selbst nimmt, indem er die qualitative Messlatte weit oberhalb seiner letzten ­Releases anlegt. Oder anders: 2014 macht es ­eindeutig mehr Spaß, Ice-T beim Hater-­Erschießen und Veganer-Anschreien zuzuhören als beim ergebnislosen Beschwören der guten alten Zeit.
 
Oder noch anders: »Well, I’m in my fifties, and I think these youngsters are a bunch of pussies.« It’s on. ◘
 
Foto: CORIO/DALLE
 
Dieser Artikel ist erschienen in JUICE #161 (hier versandkostenfrei nachbestellen).
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