Die deutsche HipHop-Szene ist nicht immer fair zu ihren Musiklabels. Viele mussten schließen, einige liegen brach, wiederum andere werden von den Big Players wie Sony oder Universal aufgekauft. Große Namen wie Aggro Berlin, Royal Bunker und Selfmade Records verschwanden nach und nach. Die Mainzer Plattenfirma Sichtexot feiert derweil dieser Tage ihr zehnjähriges Jubiläum als unabhängige Institution. Ohne Sichtexot gäbe es den Untergrund im Deutschrap vielleicht gar nicht in seiner heutigen Form, die Musik des Kollektivs öffnete Tür und Tor für hunderte Künstler*innen, für die Musik Leidenschaft bedeutet. Ein Portrait, das der Frage nachgeht, wie ein Indie-Label die Zeit überdauern kann.
Die Idee zur Gründung des Labels Sichtexot entsteht im Jahr 2010, irgendwo zwischen Mainz, Wiesbaden und dem Kreis Neuwied. Aus der Jugend in letzterer Gegend kennen sich die Gründungsmitglieder Anton Pfurtscheller (Anthony Drawn), Dennis (Tufu), Jens (Buddy Becks), Martin (Choclip) und Kevin (Kevoe West). Seit 2003 erschaffen sie in unterschiedlichen Konstellationen Musik zusammen. Im Landkreis Neuwied und dem dazugehörigen Westerwald gibt es keine große HipHop-Szene – In der Skaterszene der Region tobt der Kampf zwischen Rap und Punk. Musikalischer Austausch findet auf REWE-Parkplätzen statt. Und wer Gemeinsamkeiten im Geschmack aufweist, ist gut beraten, zusammenzuhalten. So kommt die fünfköpfige Gründungsgruppe des Labels zunächst zusammen.
Zu späterer Zeit in Mainz angekommen, veranstaltet Jens HipHop-Contests, für einen Auftritt kann man sich bei ihm per Email mit MP3-Files bewerben. Auf einer dieser Parties trifft der Freundeskreis, der kurz vor der Gründung eines eigenen Labels steht, auf das spätere Sichtexot-Zugpferd Eloquent. Der damals Mitte-20-Jährige hat wohl sein ganzes Leben schon gerappt – und präsentiert sich extrem selbstsicher. Tufu erinnert sich noch heute an diesen Auftritt: »Eloquent war schon damals ein verfickter Pitbull«. Am selben Abend sieht er das Duo Luk&Fil auf der Bühne. Damals noch minderjährig, hinterließen die Rapper, die sich heute Negroman und Nepumuk nennen, bleibenden Eindruck: »Die Muse ist dir ins Gesicht gesprungen«.
Nach frustrierenden Erfahrungen mit anderen Labels und dem Drang nach künstlerischer Eigenregie stand bald fest: »Wir machen’s einfach selber«. Und um es selber zu machen, musste ein Labelname her. Wie gut, dass bereits eine unveröffentlichte EP namens »Sichtexot« herumlag, der Name wurde übernommen. Am 01. Januar 2011 erschien dann zur Gründung das Album »Seelenquantisierung« von Tufu und Anthony Drawn, nur einen guten Monat später schon das Beattape »The Most Awkward« von Knowsum, wie sich der Rapper Nepumuk als Produzent nennt. Langzeitplanung oder Brand Marketing, diese Dinge fanden noch keinen Raum im Sichtexot-Kosmos. »Wenn jemand was fertig hatte, haben wir es veröffentlicht.«, sagt Anton Pfurtscheller. »Vor dem ersten Release haben wir nicht an das zweite gedacht.«
Wer nun meint, ohne Businessplan könne ein Label keinen Bestand haben, der unterschätzt die Kraft der Freundschaft und die Gruppendynamik, aus der sich die Grundphilosophie von Sichtexot ableitet. »Es war wichtig, sich auf Augenhöhe zu begegnen und jedem ein Mitbestimmungsrecht zuzugestehen.« Zudem besteht bis heute der Konsens, auf Moneymoves zu verzichten. Das heißt: Man verbiegt sich nicht für wirtschaftlichen Profit. Sowohl die eigene Kunst als auch die Wahl der Kollaborationen ist hiervon betroffen. Künstlerischer Austausch fand hauptsächlich innerhalb der Gruppe statt. Erfahrene Rapper wie Tufu und Eloquent gaben ihr Wissen weiter, jüngere wie Nepumuk und Negroman legten frische Herangehensweisen offen und halfen, das Labelgeschehen frei von Dogmen zu halten. »Besonders durch Kooperation haben wir uns gegenseitig angezündet«, erinnert sich Tufu. »Wir sind gemeinsam gewachsen.«
Zu Beginn der Zehnerjahre war deutschsprachiger HipHop vor allem von der Hinwendung zum Mainstream geprägt. Künstler wie Cro, Casper oder Prinz Pi sprachen die Masse an – Und wurden mit großem Erfolg belohnt. Deutscher Rap differenzierte sich aus und wuchs daran. Der Einfluss von Pop auf Rap gefiel aber nicht allen. Gerade die Generation, die mit dem New Yorker HipHop der Golden Era aufgewachsen war, konnten mit gesungenen Refrains und glattem Sound wenig anfangen. Neben Vorreitern wie Retrogott oder Morlockk Dilemma gehörten dazu auch die Labelmitglieder von Sichtexot. Untergrund war die Selbstbezeichnung der Stunde, eine klare Abgrenzung zum Geschäftsmodell Deutschrap. Samples von Soul- und Jazz-Platten spendeten Wärme, auch in den ehrlichen und direkten Texten zählte vor allem Distinktion vom Mainstream. Die von Referenzen durchzogenen Lyrics sind bis heute nicht einfach zugänglich, nicht selbsterklärend. Sichtexot veröffentlicht Musik, die zum Nachdenken auffordert. Ihre Musik ist seit jeher Antithese zum Deutschrap-Mainstream.
Kein Wunder also, dass sie sich bei ihrem ersten Auftritt auf dem splash!, dem größten deutschen HipHop-Festival, wie Außenseiter vorkamen. Was zuvor im eigenen Dunstkreis gewerkelt wurde, kam nun in Berührung mit dem Rest der Szene. Und sofort zeigte sich die Diskrepanz. Nicht alle fanden Gefallen an der düsteren und vertrackten Musik des Labels. Das war im Jahr 2013, im Nachmittagsprogramm standen sie auf der Hauptbühne. HipHop-Fans fühlten sich hingezogen zu bunt verkleideten Spaßrappern, so zumindest der Eindruck des Rappers Tufu: »Wir dachten, wir tun das Richtige für die Kultur«, sagt er und lacht. »Aber auf dem splash! sah alles anders aus.« Er habe die Diskrepanz zwischen dem eigenen Anspruch und den Vorlieben des Publikums damals als große Ungerechtigkeit wahrgenommen. Die Akzeptanz, dass jede*r HipHop für sich definieren kann, kam erst mit der Zeit, sagt Labelchef Anton Pfurtscheller.
Das Jahr 2013 hielt trotzdem einige Fortschritte für Sichtexot bereit: Mit dem Titel »Nullpunkt« landete das Rapper-Duo Luk&Fil einen kleinen Hit in der Szene, sie veröffentlichten ihr erstes Album, im gleichen Jahr erschien der Untergrundklassiker »Jazz auf Gleich« von Eloquent in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Wun Two, der zur Jüngerschaft des Sichtexotheismus hinzugestoßen war. Immer mehr Menschen finden ihren Weg in die Hörerinnenschaft und bleiben dem Label über lange Jahre treu. Rapper Tufu berichtet begeistert von einem Auftritt auf dem Wiesbadener Festival Tapefabrik. Der Raum war überfüllt, die Decke schweißnass. Labelchef Anton Pfurtscheller sagt: »In einem kleinen Nebenraum haben wir Merch im Wert von mehreren tausend Euro verkauft. Alles verkauft. Damit hätte ich nie gerechnet.« Dieser Auftritt war einer der Beweise dafür, dass sich die undogmatische Herangehensweise, die Lust auf Kollaboration und die Do It Yourself-Attitüde auszahlt.
Die Antithese kann selbstverständlich nicht ohne Mainstream als Bezugspunkt bestehen. Auch weil deutschsprachiger Rap heute so vielfältig und populär ist, kann sich Sichtexot organisch weiterentwickeln. An der Ausdifferenzierung der Szene sind die Label-Künstler gewachsen. Rapper Negroman vereinigt heute progressive Ästhetik mit R’n’B, sein ehemaliger Partner in Crime Nepumuk verliert sich in obskuren Jazz-Loops. Tufu veröffentlichte zuletzt ein durch und durch analoges Album, das sich ganz dem musikalischen Handwerk widmet, während Eloquent in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Torky Tork seine früher selbstverständlichen 90 Beats per Minute komplett hinter sich lässt. Dass der Sound sich verändert, heißt aber nicht, dass sich Gemeinsamkeiten auflösen. Das Mindset hinter der Musik sei viel wichtiger als der Klang selbst, sagt Gründungsmitglied Anton Pfurtscheller. Oder in den Worten des Rappers Tufu: »Um uns herum besteht immer noch eine Blase, in der man mit Bedacht wählt, welche Einflüsse zum Tragen kommen. Wir machen immer noch keine Musik, nur weil sie sich wirtschaftlich auszahlen würde.«
Das müssen sie auch nicht: Sichtexot ist Passion, kein stumpfer Beruf. Den Lebensunterhalt verdienen die Hauptakteure des Labels anderweitig, sie sind nicht von dem Ertrag der Musik abhängig. Wirtschaftlicher Druck ist ihnen fremd, sie sind nicht an Statistiken und Verträge gekoppelt. »Dadurch konnten und können wir kompromisslos Kunst machen«, sagt Anton. Es sei somit leichter, nicht an Authentizität und Leidenschaft zu verlieren. Das zeigt sich auch in Details der Labelgeschichte. Anton Pfurtscheller erzählt von seinem 2012 veröffentlichten Solo-Album »A Beautiful Fragile Balance«, das sich nie gut verkauft hat. Keinen Gewinn konnte das Label mit dem Projekt erzielen. »Unabhängig zu sein, bedeutet für uns ganz konkret, dass uns niemand reinreden kann, wir niemandem Rechenschaft schuldig sind.«
In den letzten zehn Jahren kommerzialisierte sich HipHop mehr als je zuvor. Streamingzahlen und Social Media-Kanäle prägen die Musikindustrie – und in vielen Fällen auch den empfundenen Wert der Musik. Diese Umstände zwangen viele Plattenfirmen zum Ausverkauf oder in die Knie. Die Bedächtigkeit der Sichtexoten ist heute wertvoller als je zuvor. Die Sichtexoten verzichten auf ständigen Austausch mit Fans in den sozialen Medien oder Gimmicks wie Deluxeboxen mit Plastikspielzeug, sie setzen stattdessen auf das schwarze Gold. Die Vinyl ist ein Bekenntnis zum klassischen Album. Die Arbeit an einem traditionellen Format wie dem Album spendet Halt und Konzentration. Sich dem Streaming-Zeitalter gänzlich zu verschließen, wäre allerdings ignorant, sagt Anton Pfurtscheller. Zumal die altmodische und dennoch beliebte Vinylproduktion mittlerweile fast unsicherer ist als das digitale Release. Majorlabels blockieren seit Jahren immer wieder Vinyl-Presswerke mit Neuauflagen alter Lieblinge – Etwa zum Tod von Prominenten. Trotzdem gilt für Tufu noch heute: »Ein Album ist erst fertig, wenn ich die Vinyl in der Hand halte.«
Dass sie damit nicht am großen Reibach des Deutschraps in diesen Jahren teilhaben, grämt sie nicht. Musikalisch sei der Mainstream dermaßen weit entfernt, dass sich der Vergleich gar nicht anbiete, sagt Anton. Dennoch verschließen sie sich nicht vor den Veränderungen der Industrie, nichts liegt ihnen ferner als Engstirnigkeit. In einer sich verändernden Industrie muss auch das Label Sichtexot Wandel zulassen. Aber zum Glück nur insoweit, wie es für alle Beteiligten tragbar ist. Anton Pfurtscheller fasst zusammen: »Wenn man über einen längeren Zeitraum kontinuierlich gute Musik veröffentlicht, wird man bekannter, ohne sich zu verbiegen.« Das ist Anlass für Stolz. Auch heute noch glänzt Sichtexot als Outlet für HipHop, der sich von betriebswirtschaftlichen Zwängen und Schubladendenken frei macht. »Grenzen, an denen andere anhalten müssen, existieren für uns nicht«, sagt Tufu. »So bereichern wir die Kultur.«
Text: Till Wilhelm
Beitragsbild: Daniel Hoffmann