»Afro-Trap dominiert die Charts«, könnte ein Berichterstatter geschrieben haben, als vor wenigen Wochen die GfK ihre Rechenformel für die deutsche Hitparade ändern musste, weil Tracks von »Palmen aus Plastik 2« acht der vorderen zehn Plätze besetzten. »Dancehall dominiert die Charts«, hört man schon seit 2016. Damals ließ sich zum Beispiel Justin Bieber unter seinen Smash-Hit »Sorry« einen Dem-Bow-Rhythmus zimmern – nicht von Bobby Digital natürlich, der 1990 zusammen mit Shabba Ranks den modernen Dancehall-Sound prägte, sondern von den US-Hitmaschinen Skrillex und BloodPop. Fast gleichzeitig und noch einige Tausend Kilometer weiter von Jamaika entfernt schafften es RAF Camora und Bonez MC im Alleingang, Deutschrap mit Dancehall bekannt zu machen – und wenig später hieß das plötzlich Afro-Trap.
Upside Down
Die deutschsprachige Dancehallszene ist klein. Partys werden hauptsächlich von Menschen karibischer oder westafrikanischer Herkunft besucht, die sich wenig für die Übersetzungen eines Trettmann interessieren. Als Team Platin deshalb nicht aus der Dancehall-, sondern aus der Deutschrapszene heraus endlich das Erfolgsrezept fand, war das ein Befreiungsschlag. Die Freude darüber kann man RAF anhören, wenn er auf »Primo« rappt: »Plötzlich war’n Gangster am Tanzen auf westafrikanischem Sample/Für sie war die Mucke nur Coco Jambo«. Schon hier gibt es aber Anlass zur Verwirrung. Und der Vergleich mit dem Eurodance-Hit von Mr. President bringt das deutsche Level an Verständnis für neue Klangbilder gut auf den Punkt. Aber sind das wirklich westafrikanische Samples, die in den Clubs laufen? Und was hat Westafrika eigentlich mit Dancehall zu tun? Es hat eine Vermischung mit dem Phänomen Afro-Trap stattgefunden, geprägt von einem Fußball-affinen Franzosen namens MHD. Für »Palmen aus Plastik 2« griffen dann schon RAF und Bonez selbst lieber in die Eurodance-Sample-Kiste und verwursteten Bomfunk MCs und LaBouche. Mit Jamaika hat das ebenso wenig zu tun wie mit Westafrika, außer dem tanzbaren synkopierten Drum-Rhythmus.
»MHD ist für mich jemand, der den Begriff Afro-Trap tatsächlich verkörpert«, sagt Ghanaian Stallion. Der Moabiter hat sich nicht nur als Produzent für Megaloh und BSMG, sondern Zeit seines Lebens mit Musik aus Afrika beschäftigt. Die meisten populären Afrobeat- und späteren Afrobeats-Künstler kommen aus Ghana, dem Geburtsland seines Vaters, oder aus Nigeria. »Bei MHD steht das einfach für eine Mischung aus modernen Trap-Flows und modernen Afrobeats«, erklärt er. »Man hört, dass er sich mit Afrobeats-Musik auseinandersetzt. Er hatte schon auf dem ersten Album ein Feature mit Fally Ipupa. Er kennt die Musik mit Sicherheit seit er klein ist aus dem Elternhaus.«
Johnny Just Drop
Als Afro-Trap nach Deutschland schwappte, wurde unklarer, wer Afrobeats wohl schon aus dem Elternhaus kennt. Wer ein Stück von RAFs Kuchen abhaben wollte, musste nicht unbedingt westafrikanische Samples diggen. Stattdessen wurde kopiert, was RAF macht, und bisweilen sicher auch, was MHD macht, aber zunehmend austauschbarer und in größerer Entfernung zur ursprünglichen Idee. »Wenn ich ehrlich bin, denke ich bei westafrikanischen Samples im Deutschrap eher an ‚Tabula Rasa Pt. 2‘ von Freundeskreis«, sagt Ghanaian Stallion. »Da hört man die Highlife-Gitarren, die Bläser und so weiter. Damals habe ich mich vor allem darüber gefreut, dass die Videos in Ghana gedreht wurden, wodurch ich einen persönlichen Bezug dazu hatte.« Man muss mit Genrebegriffen nicht kleinlich sein. Nigerianische Künstler wie Wizkid oder Mr. Eazi sind hörbar auch Dancehall-beeinflusst, und ein deutscher Musikkonsument muss nicht wissen, wie eine Highlife-Gitarre klingt. Das Label Afro-Trap schmückt sich aber mit der Exotik afrikanischer Einflüsse, von denen nicht viel übriggeblieben ist: »Klar, es gibt die typischen Afrobeat- und Dancehall-Drum-Patterns, die man dann halt verwendet. Das ist es aber dann auch meistens. Ich höre in vielen der Produktionen nicht die Seele, die die Musik so sehr ausmacht.«
Das Label Afro-Trap schmückt sich aber mit der Exotik afrikanischer Einflüsse, von denen nicht viel übriggeblieben ist
Wie fühlt sich das an, wenn man einen persönlichen Bezug hat, unter dem Label Afro-Trap von Afrika aber nicht viel mehr übrigbleibt als ein bestimmter tanzbarer Rhythmus? »Auf einmal ist alles Afro-Trap, und man fragt sich, wo eigentlich der Afro-Part sein soll. Selbst nach dem Erfolg von ‚Palmen aus Plastik‘ hätte ich nicht gedacht, wie dreist so viele das totreiten«, sagt Ghanaian Stallion. »Wir haben schon auf Megalohs Album ‚Regenmacher‘ afrikanische Einflüsse eingebaut in Form von Bläsern oder Tony-Allen-Drum-Loops.« Im Refrain zu »Oyoyo« von besagtem Album singen Megaloh und Chima Ede ein nigerianisches Kinderlied in der Sprache Igbo. Musa beginnt seinen Vers mit vier Zeilen auf Krio, einer in Sierra Leone verbreiteten und wie das jamaikanische Patois auf dem Englischen basierenden Kreolsprache. »Für uns war und ist das eine natürliche musikalische Entwicklung, die einhergeht mit dem echten Leben«, sagt der Produzent. »Es ist eine Weiterentwicklung der Musik, die in unseren Elternhäusern lief.«
Colonial Mentality
Wenn ein Begriff wie »Afro-Trap« geschöpft oder ein Begriff wie »Dancehall« umgedeutet wird, weil Youtube-Kommentatoren glauben, ihn auf Tracks von Summer Cem oder Bausa anwenden zu können, findet eine Dissoziation mit kulturellen Ursprüngen statt, und die Genres werden zu einer generischen neuen Masse. Diese Tendenz, Dinge ohne großes Nachdenken zu vereinnahmen, ist eine Eigenschaft der kapitalistischen Kulturindustrie, die man weder Produzenten noch Konsumenten vorwerfen kann. Es kommt ja auch niemand aus einem Tarantino-Film und interessiert sich plötzlich für Italo-Western oder japanische Splatter-Filme. Im Umgang mit bestimmten Teilen der Welt lässt sich aber eine auffällige Selbstverständlichkeit beobachten, mit der sich Kulturelles angeeignet wird, die an postkoloniale Prozesse in der Wirtschaft erinnert. Ein Bewusstsein für die Verwendung von Begriffen mit einem bestimmten kulturellen Hintergrund ist wünschenswert. Ghanaian Stallion stört zum Beispiel eine Ignoranz in der Berichterstattung: »Medien diskutieren darüber, wann der Afro-Trap-Hype vorbei ist, und verstehen nicht, dass diese Musik für uns kein Hype ist. Diese Rhythmen haben meine Eltern schon gehört. Auch die moderne Variante: Wizkid macht nicht erst seit zwei Jahren Musik. Vor ihm gab es P-Square und viele weitere Leute, die diesen Sound geprägt haben. Ich fände es gut, wenn Leute, die die Entwicklung in Deutschland kritisieren, auch unterscheiden könnten. Afrobeat ist die populäre Musik in Afrika. Die gibt es schon lange und die wird es immer geben, unabhängig davon, ob in Deutschland gerade alle einen Playlist-Trend bedienen.«
Vieles von dem, was in Deutschland als Afro-Trap bezeichnet wird, kann und sollte kritisiert werden. Der Afro-Trap-Boom geht mit dem größten kommerziellen Erfolg von Deutschrap, gleichzeitig aber auch mit der größten kreativen Stagnation im kommerziell erfolgreichen Deutschrap einher. Es sollte aber niemand glauben, dass das, was in der »Modus Mio«-Playlist stattfindet, viel mit Musik aus Westafrika zu tun hat. Im Gegenteil: Wer von deutschem Afro-Trap genervt ist, sollte als nächstes unbedingt die 2018er Alben von Mr. Eazi, Burna Boy oder Yemi Alade hören.
Foto: Nykart, OJOZ, Pascal Kerrouche
Dieses Feature erschien im Rahmen des großen Jahresrückblicks in JUICE #190. Die aktuelle Ausgabe gibt’s versandkostenfrei im Shop.