Im HipHop spielte das visuelle Element stets eine wichtige Rolle. Oder glaubt jemand ernsthaft, Eazy-E und Ice Cube hätten in pinken 6XL-Shirts bedrohlich gewirkt? Nähme jemand Kanye seinen Größenwahnsinn ab, kaufte er seine weißen T-Shirts bei Kik und nicht bei Lanvin? Eben. Es geht aber auch anders. Man werfe einen Blick rüber nach Großbritannien. Dort traten vor knapp vier Jahren zwei bleichgesichtige, unscheinbare Jungs aus Glasgow raus aus ihren Elternhäusern und rein in den Fokus der Musikpresse. Der erste der beiden, Hudson Mohawke, ist heute im weltweiten Beatnerd-Zirkel so etwas Ähnliches wie ein Superstar. Der zweite war Rustie.
Fernab von progressiv denkenden Beat-Nerds und dem allseits bekannten und immer noch unbeliebten Easyjetset mag auch Hudson Mohawke immer noch ein Niemand sein. Für Nerds, Raver und Beat-Freaks gilt er jedoch seit seinem LP-Debüt »Butter« von 2009 als einzig legitimer Timbaland-Nachfolger. Einer, der Pop ähnlich revolutionieren könnte, wie Timothy Mosley, Pharrell Williams und Chad Hugo es vor gut zehn Jahren getan haben. Sein Kollege Rustie hat sich zwei Jahre mehr Zeit gelassen, bevor er nun im Oktober nach den passionierten 12”-Sammlern auch jene begeistern möchte, für die das Format »Album« noch etwas bedeutet. »Ich war einfach noch nicht so weit. Ich hatte damals erst frisch angefangen zu produzieren. Die letzten Jahre sehe ich als experimentelle Phase an. Ich musste erst Erfahrungen sammeln, bevor ich mich dafür bereit gefühlt habe, ein Album zu produzieren.«
Eine beinahe erschreckend tiefstapelnde Aussage von einem Künstler, der seit Beginn seiner Karriere wieder und wieder als Wunderkind betitelt wurde. Zumindest für jemanden, der die großmäuligen Ansagen mittelmäßig begabter Rapper gewohnt ist. Schließlich gilt bereits seine Debüt-EP »Jagz The Smack« als essenzielles Standardwerk für jeden, der sich jenen Mikrokosmos erschließen möchte, der mittlerweile unter das ungenaue Label der »UK Bass Music« subsumiert wird. Wenn jemand Musik frönen wollte, die den Techno deutscher Bauart wie ein Jahrzehnte altes Relikt aus der Vergangenheit aussehen lässt, dann hörte er 2007 und 2008 neben HudMo und FlyLo auch Rustie. Schneidende Bässe, viel Tempo – und trotzdem genug Funk und Seele, um auch fanatische Musiksammler in verwaschenen Squarepusher-T-Shirts und Ex-B-Boys in den Club zu locken. Das, was dieser junge Kerl da in seinem kleinen Kämmerlein aufgenommen hat, gilt heute völlig zurecht als Startschuss. Als Startschuss für eine große, internationale, nur lose verbundene Gemeinschaft von Produzenten, deren Musik zum Widerwillen aller Beteiligten gerne auch mal als »Wonky« oder »Aquacrunk« tituliert wurde.
Vielleicht hat Rustie sich deswegen so lange Zeit gelassen, weil er ganz sicher gehen wollte, dass er auf den ersten Blick aus der Masse an tanzbaren, synthetisch erzeugten Beats mit weithin erkennbarer HipHop-Kante heraussticht. Vielleicht lag es aber doch auch daran, dass der junge Mann sich in seinem Home-Studio so wohlfühlt, dass er es nur sehr ungern verlässt. Er spricht offen davon, dass er die perfektionistische Arbeit an seinen Babys mehr schätzt als Telefoninterviews im Büro seiner Plattenfirma zu geben. »Ich hatte kein echtes Konzept, als ich die ersten Songkonstrukte für ‘Glass Swords’ baute – aber ich war mir sicher, dass dieses Album meine beste Arbeit bisher werden muss. Es soll mich als Künstler perfekt nach außen repräsentieren, schlüssig klingen und vor allem kohärent wirken.«
Ein in Anbetracht von vorherigen Blog-Großtaten wie »Zig Zag« hochgestecktes Ziel. Die zentrale Herausforderung – Songs zu machen, die dir sowohl auf Zwanzig-Euro-Kopfhörern als auch in der Panorama Bar den Kopf verdrehen – meistert Rustie jedoch mühelos. Obwohl er sich dafür ein gutes Stück weiter von seinen Wurzeln entfernen musste. »Ich hatte in den letzten Jahren sehr viele DJ-Gigs, war international in vielen Clubs unterwegs. Dort habe ich zwangsläufig sehr viel Musik aufgesogen, die gut auf dem Dancefloor funktioniert. Dadurch habe ich mich ein wenig von meinen verspielten Anfängen mit stärkerem HipHop-Einfluss entfernt. Einfach, weil man als DJ natürlich Musik spielen möchte, auf die die Leute im Club stark und emotional reagieren.«
Und so besitzt »Glass Swords« weit weniger Future-Pop-Momente als das Debüt von Kollege Mohawke. Dafür könnte es keinen besseren Soundtrack für die ausgelassensten Raves der nächsten 50 Jahre geben. Ständig geht es auf und ab, mal schwirren Melodien elegant durch den Raum, nur um wenige Sekunden später Platz für das nächste Bassgewitter zu machen. Vocals, deren vermutlich analoge Herkunft man nie und nimmer heraushören würde, treffen auf Achtziger-Pop-Synthies. Filigrane Arrangements wechseln sich ab mit Vier-Minuten-Ungeheuern, die vor überwältigenden Ideen nur so strotzen, sich aber auch als Soundtrack für den N64-Klassiker »F-Zero X« gut gemacht hätten. Selbst nach intensivem Hören wird man ein ums andere Mal überrascht, umgepustet oder verzaubert.
Trotzdem entsteht Rusties referenzbeladene Musik gar nicht, wie der »Pitchfork«-Autor Martin Clarke mutmaßte, als zwangsläufiges Ergebnis des »Lebens in digitalem Exzess«. »Ich bin schon viel online. Aber das Internet macht mich schnell unkonzentriert und verrückt. Ich versuche möglichst viel Zeit offline zu verbringen, schalte mein Handy ab, gucke aus dem Fenster und schaue mir Vögel an oder so. Ich versuche zwar, stets auf dem aktuellen Stand zu bleiben, höre aber trotzdem mehr alte Musik.« Natürlich ist er als Kind der neunziger und nuller Jahre vom urbanen Mainstream dieser Zeit beeinflusst. Von Darkchild genauso wie von Timbaland und den Neptunes. Insbesondere »Glass Swords« weckt aber an einigen Stellen stärkere Erinnerungen an den Fusion Jazz und den Progressive Rock der Siebziger: freigeistig, filigran und raffiniert, aber trotzdem kraftvoll und intensiv. Rustie nennt im Interview vor allem anderen Allan Holdsworth als einen der Künstler, die er in den letzten Jahren während seiner Internet-Auszeiten viel gehört hat. Ein von Frank Zappa und Eddie Van Halen verehrter Jazz-Gitarrist als großes Vorbild? Das passt besser, als man denkt. Holdsworth legte großen Wert auf ungewöhnliche Akkorde und komplexe Harmonien. Und Rustie? »Für mich sind die Drums erst mal zweitrangig. Ganz klar, Akkorde und Melodien kommen für mich an erster Stelle.«
Wenn Flying Lotus also als Jimi Hendrix unserer Generation bezeichnet wird, ist Rustie dann der moderne Allan Holdsworth? Dieser Bursche, der auch vier Jahre nach seiner spektakulären Debüt-EP immer noch aussieht wie 14? Tatsächlich könnte Rustie immer noch die Schule besuchen. Keine Wikipedia-Seite, keine Presse-Bio. Keine Angaben zum bürgerlichen Namen, kein Alter, keine Vergangenheit. Fans, Blogger und Journalisten werden gezwungen, sich ausschließlich mit dem Wesentlichen zu beschäftigen: Der Musik, die dieser zurückhaltende Milchbube in seinem Schlafzimmer komponiert. Also ist Rustie tatsächlich das nächste Laptop-Genie nach Steven Ellison? Der Nächste, der das elektronische Universum auf den Kopf stellt und bereits jetzt Musik für die Ewigkeit macht? Zweimal enthusiastisches Kopfnicken, bittesehr.
Wenn Warp Records »Glass Swords« im Oktober auch der Öffentlichkeit zugänglich macht, wird der Club der begeisterten Kopfnicker in den U-Bahnen, Szene-Discos und Afterhour-Bars der westlichen Sphäre einige neue Jünger gewinnen. Alleine, weil jener legendäre Electronica-Indie in der jüngeren Vergangenheit unter anderem die richtungsweisenden Tonträger von illustren Koryphäen wie Aphex Twin, Boards of Canada, Flying Lotus und Hudson Mohawke veröffentlicht hat. Vor allem aber, weil Songs wie »Ultra Thizz« und »After Light« einfach mal wie verdammte Classics in the making klingen.
Bleibt nur noch eins zu klären: Die lästige Frage nach der Genre-Zugehörigkeit dieser außerirdisch guten Musik. Aquacrunk? Klar, Rusties Musik klingt irgendwie fließend und würde auch unter Wasser funktionieren. Aber Crunk im Sinne von Lil Jon? Nein, das wird der handwerklichen Filigranarbeit und den komplexen Melodieverläufen nicht gerecht. Und wer genau ist eigentlich dieser Wonky? Vielleicht sollten sich die so Bezeichneten, die sich so gerne über diese Kategorisierungen beschweren, sich einen eigenen Namen für ihr Baby ausdenken. »Darüber habe ich tatsächlich schon nachgedacht. Aber meine Musik entwickelt sich ständig weiter. Man müsste sich also ständig neue Namen überlegen – und das würde die Menschen nur verwirren. Außerdem würden wie im Dubstep ungeschriebene Regeln auftauchen, wenn man dem Kind einen Namen gibt. Regeln nehmen einem den Spaß an Kunst und Kreativität und mir geht es beim Komponieren von Songs vor allem darum, eine gute Zeit zu haben. Wenn das nicht mehr möglich wäre, warum sollte ich dann noch Musik machen?«
Text: Sascha Ehlert