Zeit für klare Worte. Kritische Töne und Conscious Rap sind in der deutschen Szene aktuell keine Seltenheit, wie sollte es auch anders sein, angesichts von weltweiten politischen und gesellschaftlichen Krisen, die sich leicht auf die eigenen Lebensumstände übertragen lässt. Kaum jemand hat die politischen Missstände in diesem Land allerdings so dringlich und vor allem wütend thematisiert, wie Rapper Ilhan44 auf seiner »110«-EP. Im Zentrum seiner Auseinandersetzungen steht die Polizei, an die sich Themen wie rechte Netzwerke, unaufgeklärte Morde, die Aufarbeitung des NSU, die Anschläge von Halle und Hanau anschließen. Genauso ist Ilhans Bild der Staatsgewalt von seiner eigenen Biographie geprägt, die in die Perspektiven der EP einfließt. »110« verortet sich zwischen wortgewaltiger Kritik und dem drängenden Aufruf zu Gegenwehr. Wir haben uns mit dem Neuköllner über seinen Weg zu Rap, sein Verständnis von Kunst, die notwendige Reaktion auf Gewalt und seinen Blick auf die Zukunft unterhalten.
Wie bist du zu Rap gekommen? Das ist irgendwie eine große Frage, konkreter vielleicht: Wie bist du mit Musik sozialisiert worden? Wann hast du die ersten Texte geschrieben?
Also erstmal: Mein Name ist Ilhan und ich mache Mukke – diesen sogenannten HipHop. Ich bin auf eine sehr natürliche Art und Weise dahin gekommen. Schon während meiner Kleinkind-Phase war ich sehr musikaffin und habe ein Fixierung auf Musik und Gesang entwickelt. Ich hätte aber nie gedacht, dass ich mich mal hinstelle und sagen kann, dass ich Rapper bin, der das mit Herz und Seele macht. Das ist sehr unkalkuliert und einfach so passiert. Ich habe früh angefangen zu schreiben, weil ich als Kind sehr viel gelesen habe. Meine Mutter hat versucht, uns Traditionen und Kultur nahezubringen, damit wir das in einem vermeintlich fremden Land wie diesem nicht verlieren und nicht vergessen, wer wir sind. Für sie ein fremdes Land, ich bin allerdings hier aufgewachsen.
»Beef hat mich zu HipHop gebracht.«
Woher kommt deine Familie und welche Art von Kultur wurde dort weitergegeben?
Meine Mutter ist aus Istanbul, mein Vater kommt aus Tokat, das ist eine Stadt im Norden der Türkei. Sie waren beide schon darauf versessen, dieses Türkisch-Sein nicht zu verlieren. Gerade als Gastarbeiter*innen, so wie sie sich jetzt noch wahrnehmen. Mein Vater träumt heute noch davon, irgendwann in die Heimat zurückzukehren, um seinen Lebenswinter dort zu verbringen. Das war schon immer ein großer Punkt, wo ich meine Eltern nicht verstehen konnte und sie mich nicht verstehen konnten. Das hat schon in jungen Jahren ein bisschen politisiert und zu Identitätsfragen geführt.
Bei uns ist die Dichtkunst sehr angesehen und als meine Mutter gemerkt hat, dass ich gerne schreibe, hat sie mich in dieser Hinsicht gefördert. Sie wollte aber nicht den Alte-Frauen-Film schieben und hat mir auch HipHop gezeigt. Meine Mutter war damals ein sehr großer Fan, als das alles noch frischer war als heute. Sie hat mir Kassetten vom Wu-Tang Clan mitgebracht und seitdem dachte ich mir, dass ich genau so werden will, denn ich mag Schwerter und Lyrics. (lacht) Dann habe ich irgendwann Deutschrap entdeckt. Das war auch ein Erlebnis, als ich realisiert habe »Ey, das gibt’s auch auf Deutsch, so dass ich es verstehen kann«. (lacht) Da habe ich tatsächlich erst mit dem Beef von Eko Fresh und Savas reingefunden. Ich hatte davor zwar schon etwas davon mitbekommen, aber fand Sachen wie Fanta 4, die andere Leute gehört haben, nicht wirklich aufregend. Dann habe ich rausgefunden, wie Streitigkeiten funktionieren. Beef hat mich zu HipHop gebracht. Das war für mich eine angenehme Art und Weise mit Streit umzugehen. Denn ich bin mit viel Gewalt aufgewachsen und war schon in frühen Jahren sehr verdrossen und übersättigt damit.
Wie hast du so früh schon Gewalt erlebt und wodurch ist diese Verdrossenheit entstanden?
Ich glaube diese Verdrossenheit kam daher, dass ich auf eine sehr schmerzhafte Art und Weise realisieren musste, dass – egal wie man stark man ist – es immer einen stärkeren gibt. Ich habe zum Beispiel oft miterlebt, wie mein Vater von Polizisten geschlagen wurde. In meinem kindlichen Kopf war mein Vater eben der stärkste Mann, den es gab. Und dann wird er vor meinen Augen von Cops niedergeknüppelt … (überlegt) … und man fragt sich, wo das alles enden soll. Wie kann da noch eine Eskalationsstufe draufkommen? Wie werde ich diese Rachegefühle los? Natürlich habe ich das nicht so formuliert, ich war 12 oder so. Aber rückblickend waren das die Reaktionen, die mein Geist und mein Körper gezeigt hat. Daher kam die Zurückgezogenheit und Verdrossenheit. Ich habe viel gekämpft und werde noch viel kämpfen, aber eigentlich hat man schon genug Gewalt mitbekommen.
Sind diese Erfahrung und deine Reaktion darauf schon in Texte eingeflossen, die du früher geschrieben hast, um damit umzugehen? Oder war das davon noch losgelöst?
Anfangs war es schon eher losgelöst davon. Da war ich noch in einer Phase von Fantasiegeschichten, die Kinder gerne in ihr Tagebuch schreiben. Ich bin dann relativ schnell da rausgewachsen und nachdem ich ein paar Jahre into Deutschrap war, habe ich auch angefangen, über meine eigene Situation zu schreiben. Das war so mit 14-15. Da sind meine ersten Aufnahmen in einem Jugendzentrum entstanden, im DTK-Wasserturm in Kreuzberg an der Grenze zu Tempelhof. Das war auch cool, weil der Vater von einem Mitschüler gehört hat wie ich rappe und meinte, dass ich doch dort rappen soll. Dort habe ich ein paar Anläufe gebraucht, aber dieses Gefühl, dass ich jemanden im Studio beeindrucken konnte, der seit 30 Jahren Rap hört, war ein sehr schönes Gefühl, das mich hat Blut lecken lassen. Leute hören es gerne, was ich sage, und man kriegt diese Bestätigung für das, was man macht. Dann habe ich erstmal diese Bestätigung gejagt.
In welcher Form?
Im Pausenhof, in Hinterhofsiedlungen und bei Freundeskreisen, wo man gecyphert hat. Dann kamen auch schon die ersten Veranstaltungen, die Jugendzentren veranstaltet haben. Zu der Zeit habe ich auch angefangen Poetry Slam zu machen. Der Besitzer vom Jugendzentrum kam auf jeden Fall zu mir und meinte, dass es einen Workshop gäbe und ob ich Bock hätte, was dazuzulernen. Ich war nie der Typ, der von sich selbst dachte, er kann das und braucht keine Hilfe mehr. Ich kann immer was lernen und da waren erfahrene Leute, die einem was beibringen wollten. Es hat sich dann herausgestellt, dass es ein Poetry Slam-Workshop ist, und ich bin als einziger Teilnehmer geblieben, weil ich es wissen wollte. Ich habe da meinen ersten Text geschrieben, hatte meinen ersten Auftritt und war dann ein paar Jahre lang Mitglied bei i,Slam. Das ist ein Bühne für hauptsächlich muslimische Jugendliche gewesen. Mit denen sind wir ein bisschen durch Deutschland getourt und haben Bühnen- und auch Backstage Erfahrung gesammelt, was nicht immer angenehm war. Die Poetry Slam-Szene, die außerhalb von diesem Verein stattgefunden hat, ist mega belastend. Und das ist sie heute noch.
Ich kenne diese Szene kaum. Was daran ist das Belastende?
Ich habe mich zwischen anderen Poetry Slammern, die das jahrelang gemacht haben, nicht willkommen oder gerne gesehen gefühlt. Das war im Kontrast zum Vereinsumfeld eine sehr feindliche Stimmung. Jahre später erfuhr ich durch Betroffene, dass einige Akteure dieser Szene Vergewaltiger sind und einige Frauen, auch minderjährige Mädchen, missbraucht wurden. Und das mit diesen Fällen nicht gut umgegangen wird. Das hat für mich den Vogel abgeschossen und seitdem halte ich mich von Poetry Slam Bühnen fern, sofern sie nicht von oder mit i,Slam organisiert wurden. Damals wusste ich das alles nicht, damals gab es nur einen schlechten Vibe und ich war für die quasi ein Alien. Deshalb habe ich mich schon immer hauptsächlich an meine eigene Gruppe gehalten.
»Kunst muss Emotionen auslösen und etwas mit den Menschen machen. Sie darf nicht einfach vor sich hin existieren.«
Und nebenbei weiter Musik gemacht?
Genau, ich habe ab und zu einen Song gemacht. Nebenbei auch mein Abitur, ich war in Kreuzberg auf der Schule und es war knapp. (lacht) Dann habe ich ein paar Semester lang studiert und später abgebrochen. Es war zwar interessant, aber es gab keine Job-Aussichten. Rap war zu dem Zeitpunkt nur ein Hobby. Ich hatte nicht die Perspektive: »Ey, ich kann das größer aufziehen. Ich bin talentiert, meine Absichten sind gut genug. Ich mach‘ das nicht für dicke Ketten, strahlende Schuhe oder für viel Sex mit vielen Frauen oder so eine Scheiße.« Das war für mich immer ein wichtiger Beweggrund, für alles, was ich tue. Meine Absicht darf nie voll und ganz eigennützig sein. Ich bin dank meinen Eltern ein wenig religiös aufgewachsen und habe ein bisschen was mitbekommen. Wenn es eine Sache gibt, die ein Muslim sein sollte, dann einen Nutzen für sein Umfeld haben. Sei es auch nur beim Garten pflegen, weil man sich damit um die Schöpfung kümmert. Für die Zukunft möchte ich mich aber auch nicht darauf beschränken und einfach Songs machen, weil ich Bock darauf habe und nicht, weil ich etwas zu sagen habe. So einer bin ich dann auch nicht, der immer conscious sein muss und nie gute Laune macht. Aber meine Musik sollte schon etwas mit den Menschen machen. Das ist eine Auffassung von Kunst, die ich schon immer hatte: Kunst muss Emotionen auslösen und etwas mit den Menschen machen. Sie darf nicht einfach vor sich hin existieren … also natürlich darf sie das, aber das wäre dann nicht meine Kunst. Meine muss treffen und etwas mit dir machen. Selbst wenn du sauer bist, weil ich auf »Gaijin« sage »Fick die Bullen« Du bist dann wütend und damit hat der Song schon eine Wirkung erreicht. Was danach kommt, ist ein Bonus. All die Diskussionen oder der Zuspruch, den man bekommt. Das leite ich aus diesem Grundsatz ab, dass ich einen Nutzen für mein Umfeld haben will. Ich will, dass Leute die Musik als eine Art Geschenk betrachten, weil ich versuche, mich nicht nur selbst zu repräsentieren, sondern etwas mitzugeben.
Das bringt auf jeden Fall gut auf den Punkt, dass deine Musik zwar schon deine Perspektive vermittelt, aber eigentlich nie nur auf dich selbst bezogen ist, sondern immer Anschluss bietet. Diese Motivation hat das nochmal deutlich gemacht. Hast du während des Studiums schon Songs veröffentlicht? Oder ist die erste öffentliche Hörprobe die »Al-Azif« EP aus 2020?
Ich hatte tatsächlich fünf Songs auf Soundcloud, die ich mit 13 oder 14 produziert habe. Das waren die einzigen, weil ich schon wusste, dass es noch nicht die Qualität war, die ich erreichen wollte. Obwohl ich immer weiter produziert habe, war das alles noch nicht so weit, dass es Songs waren, mit denen mich die Leute kennenlernen sollten. Mit »Al Azif« hatte ich die Möglichkeit mit Camufingo zu arbeiten und diesen eigenen Anspruch an die Qualität einzuhalten. Das ist ein gutes Tape, um mich kennenzulernen. Sei es von der Titelgebung oder von den Inhalten der Songs, die zwar sehr persönlich sind, aber nicht nur aus einer Ego-Perspektive kommen.
Es hat auch durch die BoomBap-Produktionen einen deutlich entspannteren Vibe als die jetzt erschienene »110«-EP. Gleichzeitig hört man auch dort schon deine Wut und Unzufriedenheit heraus. Du rappst auf dem Titeltrack: »Sie verbrannten Oury Jalloh in ‘ner Knastzelle / Und du fragst dich, wogegen ich hier ankämpfe«. Durch solche Zeilen wird ziemlich klar, dass es mehr als nur persönliche Themen sind, die bei dir brodeln.
Voll. Und das tut es heute noch. Es brodelt und brodelt, es hört nicht auf und deswegen klingt »110« so, wie es klingt.
Das Intro der »110«-EP bringt die angespannte Stimmung, dieses Aufgeladene auch zum Ausdruck und setzt den Ton für das ganze Projekt. Woraus entsteht dieser Zustand?
Ich glaube, dass ich eine große Stagnation wahrnehme, was die Gesellschaft, wie ich sie mitbekomme, betrifft. Dass sich seitdem ich jung bin nichts verändert und sich abgesehen davon auch seit der Zeit meines Vaters oder Großeltern nichts wirklich verändert hat. Es sind immer noch die gleichen Nazis, die gleichen sozialen Ungleichheiten, die eigentlich nur noch schlimmer werden. Das ist die einzige Veränderung, die stattfindet. Natürlich sind wir hier nur indirekt bedroht. Es herrscht kein Krieg und, außerhalb der Pandemie, auch keine Not. Aber rechte Gruppierungen verbrennen immer noch unsere Autos und Läden in Rudow und Neukölln. Darüber hinaus sitzt die AfD seit mehreren Jahren im Bundestag. Diese rechten Tendenzen laden mich sehr auf, weil ich mich davon bedroht fühle. Weil ich aktiv das Gefühl habe, dass es gesellschaftlich immer schlimmer wird und ich nicht weiß, wie lange ich hier überhaupt noch leben kann. Berlin ist halt meine Heimat, dagegen kann ich nichts tun, egal wie gern jemand etwas dagegen tun möchte. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Der Gedanke, meine Heimat wegen diesen Entwicklungen in den nächsten 10-15 Jahren verlassen zu müssen, lädt mich auf. Mit sehr viel politischem Kontext, mit sehr viel Wut und sehr viel Frust. Damit bin ich nicht alleine und wir kommen auf das Thema von vorhin zurück. Das ist nicht nur aus einer Egoperspektive geschrieben, egal wie persönlich diese Themen sind. Ich bin nicht alleine damit. Dieser Gedanke ist ein Fluch und ein Segen.
»Die Radikalität in meiner Musik funktioniert wie Kunstblut in einem Splatterfilm«
Es gibt ja exakt die Leute, die mehr oder weniger von genau diesen Sachen bedroht sind, die du gerade beschrieben hast. Das sind in der Regel eben Menschen, die nicht weiß sind, sondern migrantisierte Personen und Minderheiten in Deutschland. Ich finde, du erhebst deine Stimme am stärksten für diese Leute und dann auf einer weiteren Ebene auch für Menschen, die diese Probleme verstehen, aber nicht in diesem Maße davon betroffen sind, und sich deswegen damit solidarisch erklären. Siehst du dich als Sprecher einer Perspektive, die im deutschen Rap zu kurz kommt? Gerade weil du die Bedrohungen so konkret ansprichst?
Ich denke, das hat mehr mit der Industrie zu tun, als mir lieb ist. Meine Musik ist für die allgemeine deutsche Bevölkerung, die nicht in Städten, sondern ländlichen Bereichen lebt, schlecht vermarktbar. Ich kann mir vorstellen, dass es gerade bei diesen Leuten nicht ankommt oder sehr verschreckend wirkt. Aber ich glaube auch, dass es neugierig machen und auch ein bisschen Angst schüren könnte. Ich würde mir aber nicht zumuten wollen, ein Sprecher für die Unterdrückten zu sein, denn ich werde wahrscheinlich immer jemanden vergessen. Es ist eine große Aufgabe und große Verantwortung, für all diese Menschen sprechen zu wollen. Ich fände es überheblich von mir zu sagen, diese Leute brauchen gerade mich, um für sie zu sprechen, weil sie aus ihren eigenen Reihen kein Gehör finden. Ich denke, solche Fragen kann nur die Masse von sich aus beantworten, indem sie im Laufe der Zeit sagt: »Das ist unser Mann.« Was er sagt-mäßig.
Verstehe ich total. Du wirst in deiner Musik, die ja immer noch Kunst und keine theoretische Abhandlung, Manifest oder ähnliches ist, nie für alle sprechen können. Ich glaube, dass es nie eine Person schaffen wird, alle Ebenen für alle Leute mitzudenken, die betroffen sind. Das ist irgendwie ein utopischer Anspruch, von dem ich nicht glaube, dass eine Person den je erfüllen wird.
So ein Messias, der alle erretten und erlösen wird. (lacht)
Daher verstehe ich schon, warum du dich nicht als »Stimme der Unterdrückten« bezeichnen willst. Aber für Personen, die ein anderes Lebensumfeld haben, ist glaube ich das radikale Element in deiner Musik ein Punkt der Abgrenzung. Daher würde ich gerne wissen, warum dieses radikale Element in deiner Musik so wichtig ist. Die Botschaft, dass man Cops eben eher auf den Kopf hauen und Molotow Cocktails schmeißen sollte, anstatt einfach auf eine Demo zu gehen. In einem System wie in Deutschland wird genau da ganz oft die Grenze zwischen »Das sind Linksextreme« oder eben »Das ist legitim, die gehen ja demonstrieren« gezogen.
Zunächst: In einer Gesellschaft, in der Gegenstände mehr wert sind als Menschenleben, ist Vandalismus ein legitimes Mittel des Protests. Die Zerstörung von Gütern ist ein legitimer Weg. Das Einstürzen des Finanzsystems ist ein heroischer Akt. (lacht kurz) Darüber hinaus ist die Radikalität insofern wichtig… Anders gesagt: Was ist radikal? Ist es, wie du gerade beschrieben hast, die Frustration über die ewigen Demonstrationen und der Aufruf zu Aktionen? Sagen wir, es ist ein nötiges Stilmittel. Damit die Musik und der Effekt, den sie entfalten soll, das auch schafft. Die Radikalität in meiner Musik funktioniert wie Kunstblut in einem Splatterfilm. All die Gewaltszenen und Übertreibungen in Filmen mit ihrer Exzentrik sind ein wichtiges Stilmittel, weil sie, ähnlich wie im Horror- und Splattergenre, Emotionen auslösen, die ich ohne nicht erreichen würde. Da bediene ich mich viel an Lovecraft, der sozusagen der Urvater von Horrorgenres in der Literatur war. Er hat viel mit der Angst vor dem Unbekannten und der Ohnmacht gespielt, vor etwas Großem, Unzerstörbarem, das unsere Vorstellung übersteigt. Das ist für mich das System, in dem ich lebe. Ich bin so sehr in Bürokratie und anderen Dingen gefangen, dass dieses Konstrukt für mich der kosmische Horror ist, in dem ich lebe. Deshalb brauche ich die radikale Aussprache in meiner Musik, um das zu würdigen. Deshalb sage ich »Werft Molotow auf Cops«, um auch ihre Gewalt zu würdigen.
Soll deine Musik auch den Effekt haben, dass anderen Leuten diese Dimensionen klar werden? Das Mächtige daran, was nur mit mächtigen Mitteln bekämpft werden kann. Um deine Wahrnehmung des Systems auf Leute zu übertragen, beziehungsweise den Einblick zu geben, damit sie dazu eine radikalere Einstellung entwickeln können. Oder ist das ein nur Effekt, der nebenbei entstehen kann?
Ich denke, es ist nicht mal radikal, sondern auf eine Art und Weise normal. Gewalt erzeugt Gewalt und wir leben in einem System der Gewalt. Selbst wenn diese Gewalt nicht körperlich ist, nicht physisch ist, ist sie doch psychisch für viele Menschen spürbar. Seien es die Armen der Arbeiterklasse oder diese Einteilung in Deutsche und Nicht-Deutsche. All diese Menschen spüren den existenziellen Horror am eigenen Leib. Jeden Tag. Deshalb denke ich, dass der Wunsch nach Erlösung in Form von Aufstand, in Form von Widerstand gänzlich normal ist. Und darin eigentlich kein radikales Gedankengut verwickelt ist.
Der Begriff der Radikalität, den ich verwendet habe, bezieht sich natürlich auch darauf, wie dieses Gedankengut kategorisiert wird. Es ist offensichtlich, dass die Mehrheit der Leute das anders sehen als du, aber es bleibt trotzdem eine Frage, wie es dann dargestellt wird. Das als »radikal« zu beschreiben oder bei jeder kleinen Ausschreitung auf einer linken Demo etwas von Linksradikalität zu schreien ist ja auch eine Form davon, solche Gedanken und Verhaltensweisen illegitim zu machen und zu einem Mittel zu erklären, das nicht respektiert wird. Was wiederum Gewalt von staatlicher Seite rechtfertigt.
Es ist mindestens genauso radikal zu sagen, dass die Polizeigewalt auf Demos von Linken gerechtfertigt sei. Diese Rechtfertigung der Staatsgewalt und der Unterdrückung von Menschen ist mindestens genauso radikal. Deswegen würde ich sagen: Widersetzt euch dagegen.
Wie sieht dein zukünftiger Blick auf diese Zustände, die hier beschrieben wurden, aus? Du hast es selbst gesagt, dass du diese Erfahrungen quasi schon dein ganzes Leben lang machst und es eher noch schlimmer geworden ist. Hast du einen Hoffnungsschimmer, dass sich die Verhältnisse wirklich verändern können, wenn man dagegen ankämpft oder bleibst du ein Pessimist und siehst daraus keinen Ausweg?
Was mir Hoffnung macht, ist zu wissen, dass der Großteil der CDU-Wählerschaft bald tot sein wird, weil sie alt sind. (lacht) Tatsächlich habe ich große Hoffnung in die nächsten Generationen, die sich schon in jungen Jahren stark politisieren, große Demonstrationen organisieren und versuchen die Scheiße auszubaden, die wir und unsere Vorfahren angezettelt haben. Ich persönlich sehe kein anderes Mittel als den Aufstand und Widerstand. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ständiges Demonstrieren und Diskutieren rechtzeitig etwas bewirkt. Denn jetzt kommt auch noch die Zeit-Komponente ins Spiel, weil unser Planet irgendwann unbewohnbar wird. Dieses Problem hatten unsere Eltern nicht, die wussten nicht, wann es vorbei sein wird. Wir haben eine genauere Zahl, beziehungsweise Zahlen, zum Beispiel mit der Grenze von 1,5 Grad, die nicht überschritten werden sollten. Das macht Druck und etwas mit deiner Psyche. Abgesehen von der Bedrohung von Rechts, von Kapitalisten und was auch immer. Es ist eine Musik der Angst, eine Äußerung der Angst und Zweifel. Ich würde auch nicht sagen, dass ich in meiner musikalischen Ausdrucksweise gegen etwas ankämpfe. Das einzige wogegen ich da ankämpfe, ist gegen meine Laune, der ich versuche Ausdruck zu verleihen und mit ihr klarzukommen.
Gerade bei der »110«-EP hast du das mit nochmal anderen musikalischen Stilmitteln gelöst, als auf der »Al-Azif«-EP. Ich habe gesehen, dass AsadJohn einige Songs produziert hat.
Ehrenmann, ich küsse sein Herz.
Das sind richtige Bretter geworden. Und es hat nochmal einen Effekt, ob so ein Song, der starke Inhalte vermittelt, das akustisch auch rüberbringen und damit eine bestimmte Atmosphäre erzeugen kann. In dem Fall drückt das, knallt und fliegt einem in die Fresse. War das für dich wichtig, da einen neuen Schritt zu gehen und deine Musik zu verändern?
Ja und da findet sich tatsächlich ein Hinweis auf dem Cover der »Al-Azif«-EP. Da ist eine Hand, die die Sonne hält. Ich habe damals gesagt, dass dieses und die nächsten Tapes klingen, wie das Leben einer Sonne. Wir haben, weil die Sonne ein Gasball ist, mit sehr nebligem Sound angefangen. Ein bisschen unscheinbarer, als man es vielleicht erwarten würde. Jetzt gehen wir zur Phase über, wo die Sonne ihren Treibstoff verbrannt hat, größer wird, sich aufbläht und versucht, Energie für weitere Kernfusionen zu gewinnen. So sollte sich »110« anhören. Deshalb drückt es so sehr, deshalb ist es so ein tiefer, fast ekliger Sound, der in deine Brust reindrücken soll, während du das hört. Mit all den Inhalten, mit der musikalischen Untermalung. Ich denke diese Metapher ist, obwohl ich es AsadJohn nie gesagt habe, gut gelungen. Ohne ihn hätten wir es nicht geschafft, daher s/o an AsadJohn.
Wird sich das auf den nächsten Projekten weiterführen? Hast du da schon konkretere Pläne?
Ich hoffe sehr, dass ich weiterhin Musik machen kann. Ich hätte nicht gedacht, dass es finanziell so schwierig sein wird die Tapes zu machen, aber ich hoffe, dass ich bald ein paar gute Deals bekomme, mit denen ich arbeiten kann. Denn ja, ich habe noch einige Sachen vor und weiß genau, wo es hingehen kann. Ich habe quasi Sachen für die nächsten 15 Jahre geplant, ich muss sie nur umsetzen können. Wenn eine Sonne stirbt, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder sie zieht sich zusammen und bleibt ein kleiner Ball, der explodiert und zu einem anderen Stern wird. Oder sie wird ein schwarzes Loch. Eins dieser beiden Sachen wird es sein, so als kleiner Hinweis, wo es hingehen könnte. Das bedient sich wieder am kosmischen Horror von Lovecraft, außerdem habe ich ein Guilty Pleasure für Sternenkunde entwickelt. Und ich meine damit keine Sternzeichen! (lacht) Das ist mir eine große Inspiration, die in meine Musik einfließt, selbst wenn man es nicht merkt.
Interview: David Regner
Fotos: Doro Zinn