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Vor fünf Jahren veröffentlichten die beiden Akademiker und HipHop-Fans Marc Dietrich und Martin Seeliger das Buch »Deutscher Gangsta-Rap« – einen Sammelband zur sozial- und kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise von Bushido, Hafti & Co. Nun ist der zweite Band erschienen. Wir warfen gemeinsam einen Blick vom Fenster des Uni-Hörsaals auf die Straße.
2012 habt ihr das Buch »Deutscher Gangsta-Rap« veröffentlicht. Was war die Initialzündung dafür?
Marc: Der Poptheoretiker Thomas Hecken hat mich damals mit Martin connectet, weil wir beide wissenschaftlich zu HipHop gearbeitet haben. Also haben wir uns auf dem Campus der Uni Bochum getroffen, einen Kaffee getrunken, sehr viele Zigaretten geraucht und die Idee entwickelt, einen Sammelband zum Thema Gangstarap in Deutschland anzugehen.
Martin: Die Grundidee dazu hatten wir binnen neunzig Minuten formuliert und direkt die Autoren dafür im Kopf. Das ganze Projekt ging uns wahnsinnig schnell von der Hand.
HipHop ist ja ein recht großer Bereich. Warum die Fokussierung auf Gangstarap?
Marc: Aus soziologischer Perspektive ist das am spannendsten. Martin und ich haben kein ironisches Verhältnis dazu, sind beide Fans, können das für die kulturwissenschaftliche Arbeit aber ausblenden.
Martin: Damals gab es gerade diesen Money-Boy-Hype, der uns hinsichtlich der Rezeption von Kulturgütern eine wichtige Sache gelehrt hat: Etwas ernst zu nehmen und gleichzeitig lustig zu finden – das geht! Diese Erkenntnis war wichtig, zumal die oft von vornherein im Gangstarap angelegt ist. Nimm nur mal Fler und Jalil, die im Video zu »Bewaffnet & ready« vor einem Panzer posieren. Das Schmunzeln darüber hätte man sich früher verkniffen. Ich glaube aber, unser Buch hat ein bisschen zur Entkrampfung beigetragen.
Vor kurzem ist nun der Nachfolger »Deutscher Gangsta-Rap II« erschienen. Warum noch ein Buch zum Thema?
Martin: Wir hatten einfach Lust, uns weiter mit dem Thema zu beschäftigen und einige Theoreme und Perspektiven etwas ausführlicher auszuarbeiten.
Marc: Gangstarap hat was mit Neoliberalismus zu tun: Erzählungen Marginalisierter, die sich aus eigenem Antrieb heraus gegen die gegebenen sozialen Umstände stemmen und durch Dehnung oder Biegung kultureller Spielregeln den Aufstieg schaffen. Im ersten Band hatten wir das nur angerissen, gehen im zweiten Band aber nun näher darauf ein.
Wie war das Feedback zum ersten Band?
Marc: Wir haben viel und vorwiegend gutes Feedback bekommen und hatten den Eindruck, dass viele Leute außerhalb der Szene Gangstarap spannend finden. Denen haben wir eine neue Sichtweise ermöglicht.
Martin: Ich hätte mir aber auch Resonanz von Rappern gewünscht.
»Gangstarap ist eine Schatztruhe für Soziologen« (Marc Dietrich)
Hat sich kein Rapper dazu geäußert?
Martin: Nein. Und auch niemand, der meinte: »Das braucht doch kein Mensch!« oder »Was nehmen die sich raus, über uns zu schreiben?!« Das hätte ich aber spannend gefunden.
Habt ihr damit gerechnet, dass sich Gangstarapper mit eurem Buch auseinandersetzen?
Marc: Sagen wir so: Ich würde einigen zumindest ein grundsätzliches Interesse daran nicht absprechen. Aber ich sehe natürlich auch die Schwierigkeit des Mediums Buch an sich. HipHop findet heutzutage vornehmlich über Social-Media-Kanäle statt. Wenn wir unsere Kapitel als Tischgespräche aufgezeichnet und bei Youtube hochgeladen hätten, hätten wir wahrscheinlich mehr Menschen erreicht. Wenn man die HipHop-Szene ansprechen will, ist die Veröffentlichung eines dreihundert Seiten langen Wälzers vermutlich das falsche Tool.
Rap und HipHop haben sich in den vergangenen Jahren verändert. Welche Wandlung hat Gangstarap seit eurem letzten Buch vollzogen?
Marc: Vor allem hat HipHop Social Media verstanden. Der kulturelle Kontext, der jenseits der Musik stattfindet, hat sich stärker ausdifferenziert und wird von allen erfolgreichen Akteuren intensiver bespielt.
Martin: Ich würde sagen: Nichts ist neu, aber alles ist krasser. Die Crews von früher kommen plötzlich auch mit Biker-Gangs, der Körperkult von früher ist zur Bosstransformation geworden.
In einem Kapitel eures Buches widmet ihr euch dem Thema Indizierung. Heute landet aber weniger auf dem Index, oder?
Martin: Dazu ein Beispiel: Ich war letztens in einem Sportgeschäft, in dem »Ohne mein Team« von Bonez und RAF Camora lief. Darin rappt RAF: »Kokain in der Kabine zu zweit.« Ich stand da also in dem Laden, in dem mir jemand in einem Track erzählt, dass er kokst. Und keiner nahm Anstoß daran. Wir haben uns einfach schon daran gewöhnt.
Marc: Aber die BpjM ist trotzdem auch ein zahnloser Tiger. Die können noch so viele Tonträger verbieten, binnen weniger Minuten ist es doch eh wieder im Netz.
Habt ihr mit der BpjM mal zu tun gehabt?
Martin: Ich habe mal ein Gutachten für die geschrieben – über »Carlo Cokxxx Nutten 3« von Bushido. Denen war schon klar, dass der das nicht so meint, was er da rappt; dass er nicht wirklich auf Claudia Roth schießen will. Das hat mich überrascht. Ich dachte immer, die seien total dumm und rückständig.
Wie sind die auf dich als Gutachter gekommen?
Martin: Durch googeln, nehme ich an.
Die entscheidenden Gremien setzen sich ja aus Vertretern verschiedener Bereiche wie Kunst, Lehrerschaft, Kirchen zusammen. Ich hab immer angenommen, dass die intern über die zu prüfenden Tonträger diskutieren. Was wollten die denn von dir dazu wissen, was die nicht selbst hätten herausfinden können?
Martin: Die wollten wissen, ob das Kunst ist. Offensichtlich konnten die das selbst nicht beurteilen.
Die Kunstvertreter im Gremium können nicht beurteilen, ob etwas Kunst ist?
Martin: Die hatten sicher bereits eine Meinung zur Platte, die sie von mir in Form eines Gutachtens noch mal bestätigt haben wollten, um eine Legitimation für ihre Entscheidung zu haben.
Und du hast dann bestätigt: Ja, »Carlo Cokxxx Nutten 3« ist Kunst.
Martin: Genau. Ich habe einem philosophischen Wörterbuch eine Kunstdefinition entnommen, die Platte auf die entsprechenden Kriterien hin abgeklopft und herausgearbeitet, dass es sich bei der Platte um ein Kunstobjekt handelt.
Marc: Man muss aber auch sagen: Die Bewertungskriterien der BpjM sind einerseits unscharf definiert, andererseits folgen die denen nicht immer. Die suggerierte Eindeutigkeit bei deren Bewertung des Kunstgehalts von Tonträgern existiert nicht.
Euer Buch trägt den Untertitel »Popkultur als Kampf um Anerkennung und Integration«. Geht es eurer Meinung nach im Gangstarap mehr um Anerkennung als in anderen künstlerischen Bereichen?
Marc: Der kompetitive Gedanke ist als Basisregel in die HipHop-Kultur eingeschrieben. In jeder Disziplin – auch wenn im Gangstarap Authentizität beispielsweise wichtiger ist als Rapskills.
Inwiefern ist der Punkt Integration im Zusammenhang mit Gangstarap wichtig?
Marc: Man kann gewisse Analogien zu US-amerikanischen Rappern feststellen. Deren Message ist hierzulande angekommen und wird adaptiert: dass Leute aufgrund ihrer Hautfarbe, Ethnizität oder ihres kulturellen Backgrounds marginalisiert werden und sich dadurch abheben von einer hegemonialen Kultur. Und wenn man als Rapper mit Migrationshintergrund schon in der Schule die Erfahrung macht, dass man ausgegrenzt wird, landet man schnell beim Gangstarap, weil es in den Texten genau darum geht.
»Ich dachte immer, die BPJM Sei total dumm und rückständig.« (Martin Seeliger)
Ist Gangstarap denn ein geeignetes Mittel, um sich zu integrieren? Sorgt das nicht fürs Gegenteil?
Martin: Wer sich abgrenzt, tut das im vorliegenden Fall zwar oft gemeinsam mit anderen, lehnt aber einen Großteil der Gesellschaft ab: ein neoliberales Paradoxon. Es ist sicher gut, wenn sich marginalisierte Akteure einer gemeinsamen Stimme bemächtigen. Man darf aber nicht automatisch rückschließen, dass daraus ein fruchtbarer Beitrag zu einem Diskurs entsteht.
Welche Erkenntnisse über die Gesellschaft lassen sich bei der Betrachtung von Gangstarap ziehen?
Marc: Popkultur hat nicht immer ein dezidiert politisches, zumindest aber ein sozialkritisches Potenzial, weil die Medien ja zwangsläufig auf soziale Realität und Kategorien wie Klasse, Geschlecht etc. zurückgreifen müssen. Medien sind also Interpretatoren und Modifikatoren von sozialer Realität. Indem sie konsumiert werden, gehen sie wieder in den gesellschaftlich geteilten Wissensvorrat ein. Gangstarap ist daher so was wie eine Schatztruhe für Soziologen, die wir mit unseren Büchern abzuschöpfen versuchen.
Martin: Wenn Celo & Abdi ein Album wie »Diaspora« veröffentlichen, diskutieren ihre Fans natürlich nicht automatisch über Segregation in der Großstadt. Aber je häufiger solche Themen verhandelt werden, desto mehr setzen die sich im Unterbewusstsein fest. Langfristig kann das zu einer Veränderung führen.
Marc: Es würde aber nicht viel bringen, wenn nur noch SPD-Parteiprogramme gerappt würden. Inhalte setzen sich besser, je kleiner der moralische Zeigefinger ist.
Gibt es ein Ziel, das ihr mit der Veröffentlichung von euren »Deutscher Gangsta-Rap«-Bänden ausgerufen habt?
Marc: Das haben wir bereits erreicht. Die Skandalberichterstattung über Rapper oder kulturell arbeitenden Menschen mit Migrationshintergrund ist weniger geworden. Und ich habe den Eindruck, dass auch unser Band dazu beigetragen hat.
Foto: Boogie Belgrade
Dieses Feature erschien erstmals in JUICE #184 (hier versandkostenfrei nachbestellen).