Charles Bradley musste in seinem Leben schon die eine oder andere Prüfung bestehen: Von der Mutter verstoßen, wuchs der »Screaming Eagle of Soul« in U-Bahnstationen und Zügen auf. Um der Armut zu entfliehen, verließ er New York und begann in Maine eine Lehre als Küchenhilfe. Danach arbeitete er jahrzehntelang an seinem Durchbruch als Sänger und hielt sich mit Gelegenheitsauftritten als James-Brown-Imitator über Wasser – bis Daptone Records ihm einen Deal anbieten. Mit 62 Jahren.
Das war vor fünf Jahren. Die Kritiker sangen Lobeshymnen, die Soul-Community schloss Bradleys Debüt umgehend ins Herz. Das hatte einen einfachen Grund: Bradley gibt den Verletzten und Verlassenen Stimme und Gehör gleichzeitig. Er ist vom Leben gezeichnet und zeichnet sein Leben in Songs nach. Echte Gefühle, echter Schmerz. Nun steht mit »Changes« sein drittes Studioalbum an, mit dem er zum Umdenken auffordert. Doch statt griesgrämiger Zeigefingermentalität erzählt der 67-Jährige lieber große Geschichten vom kleinen Glück.
Im »Big Apple« ist es gerade früh am Morgen. Eine Stadt, die du vor vielen Jahren auf ziemlich raue Art kennenlernen musstest, oder?
Zu früh ist es definitiv nicht. Als ich von zu Hause weglief, bin ich nie zur Ruhe gekommen. Später, als ich in einem Krankenhaus für psychisch Kranke als Koch arbeitete, musste ich um drei Uhr nachts aufstehen, um zur Arbeit zu gehen. Und jetzt? In der Musik musst du immer wach und bereit für den nächsten Schritt sein.
An welchem Punkt deines Lebens stehst du gerade?
Ich befinde mich im Aufstieg. Ich will sichergehen, dass ich mich um all die guten Seelen kümmere, die mir meinen Traum ermöglicht haben. Es ist eine wunderbare Sache, dort angekommen zu sein, wo ich jetzt bin. Das wollte ich mein ganzes Leben lang.
Deine Lebensgeschichte ist verrückt und dramatisch. Ist sie mit dem dritten Studioalbum bereits auserzählt?
Nein, mein Leben liest sich wie ein Buch. Viele Leute kommen auf mich zu und fragen: »Charles, wann wirst du dein Buch schreiben? Du siehst aus, als hättest du den Glauben an diese Welt verloren.« Und dann sage ich ihnen, dass ich sie erst von meinen musikalischen Fertigkeiten überzeugen will, bevor ich ihnen meine Geschichte zu Ende erzähle.
Du bist jetzt 67 Jahre alt. Geht dieses Künstlerleben auch zu Lasten deiner Gesundheit?
Zumindest gebe ich gut auf mich acht. Ich muss jetzt bei Kräften bleiben. Wenn ich unterwegs bin und viele Shows spiele, nehme ich mir vorher immer eine Auszeit.
Einen Teil deines Erfolgs sehe ich darin, dass das Publikum offenbar Freude daran findet, dich in deiner Musik leiden zu sehen. Ist das nicht eine Art Voyeurismus?
Die Leute mögen mich, weil ich für die Musik stehe, die ich mache. Viele meiner Hörer haben die gleichen Veränderungen und Schicksalsschläge durchgemacht wie ich. Dadurch sehen sie in mir ein Vorbild, das aufrichtig mit all seinem Stress und Schmerz umgeht. Dann fragen sie sich: »Wow, wie hat er es aus diesem Emotionsloch geschafft?« Das ermöglicht ihnen, herauszufinden, wer sie wirklich sind. »Dieser alte Kauz ist fast siebzig Jahre alt. Wenn er das kann, schaffe ich das auch.« In meiner Musik steckt sehr viel Leid und Persönlichkeit. Aber wenn du dich der Welt öffnest, weiß dein Umfeld das zu schätzen – und schenkt dir Vertrauen.
Also ist aus dir ein glücklicher Mensch geworden?
Bittersweet – das trifft es eher. Ich bin dankbar für alles, was ich erreicht habe. Die Welt hat meine Hilfeschreie gehört und mir eine Chance gegeben.
Inwiefern siehst du dich mit der HipHop-Kultur verbunden?
Ich gehöre viel mehr dem traditionellen Rhythm & Blues an. Mit Blues begann meine Karriere, dann kam Rhythm hinzu. HipHop entstand wiederum daraus, also ist Rhythm & Blues der Wegbereiter von moderner Musik. Was mir am HipHop nicht passt, sind die als Stilmittel verwendeten Obszönitäten. Und wenn die Rapper darüber reden, mit wem sie schon im Bett waren. Wen interessiert das? Wir sollten uns als Künstler stärker der Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation bewusst werden. Ich liebe Rap, aber die Message muss stimmen.
Dein Vorbild James Brown hatte aber auch einen übersexualisierten Touch in der Musik.
Ja, auf eine einzigartige Art und Weise. Er machte sein Ding, aber zog es fortschrittlich auf. Man wollte immer wissen, was er zu sagen hat. Er blieb dabei stets positiv und
respektvoll. Mich beeindrucken noch immer die Stimmen von damals: Bobby Womack, Diana Ross, Aretha Franklin. Wenn ich deren Platten höre, dann klingt das immer noch frisch und authentisch. Ich lebe nicht in alten Zeiten, aber mit neuer Musik kann ich mich nur selten identifizieren. Obwohl ich mich durchaus damit befasse, habe ich in letzter Zeit niemanden mehr gehört, von dem ich sofort den Namen wissen wollte. Heutzutage kleben sehr viele Künstler auf dem gleichen Level.
Was kann die HipHop-Kultur von Leuten wie dir lernen?
Optimismus, Ehrlichkeit, Nächstenliebe. Gebt der Welt das, was euch selbst am wichtigsten ist. Wir wollen keinen Müll mehr. Sorgt dafür, dass der nächste Tag ein besserer wird. Fangt an, das Innere eurer Seele nach außen zu tragen. Orientiert euch nicht an den Erfolgen anderer. Seid kreativ und individuell. Bewegt etwas.
Das drückst du auch mit deinem Album »Changes« aus.
Du hast wahrscheinlich von vielen furchtbaren Dingen gehört, die hier in den USA momentan den Alltag bestimmen. Dennoch liebe ich mein Land. Die USA sind das Zuhause aller Hautfarben und jeder Herkunft. So wollen wir sein und bleiben. Die derzeitigen Wahlen für die Präsidentschaftskandidatur beunruhigen mich allerdings. Es macht mir Angst, zu sehen, dass sich vieles einfach immer wiederholt – was ich in meinen alten Tagen erlebt habe, geschieht noch immer auf die gleiche Weise. Die Brutalität, mit der die Polizei durch die Straßen zieht, ist absurd. Währenddessen wachsen unsere Kinder unbehütet in den Sozialbauten auf. Ich hoffe, wir wachen auf, bevor es zu spät ist. Natürlich brauchen wir große Leitfiguren, aber ich als Individuum muss ebenfalls meinen Beitrag leisten. Ich habe ein zermürbendes Leben gelebt. Trotzdem will ich weiterhin hart an mir arbeiten und es allen zeigen – insbesondere in den USA.
Foto: Mark Shaw
Dieses Interview mit Charles Bradley erschien in JUICE 174.