Xatar: »Wenn ich ­Rapper habe, die mal in den Knast müssen, ist das für mich Routine.«

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Musik zu machen ist das eine, ein Label zu gründen das andere. Wann kam erstmals die Idee auf, AON ins Leben zu rufen?
Xatar: Bruder, die Idee hatte ich zehn Jahre davor, aber kein Geld. Dann war ich im Ausland auf Flucht, hab ein bisschen Geld gehabt und dachte mir: »Scheiß drauf, lass machen!« Es war an der Zeit, den Leuten was Richtiges zu geben. Das war 2008.
Kalim: Das war wirklich das Einzige, was ich mir damals auf Deutsch geben konnte. Und auch das Einzige, was meine Jungs sich geben konnten. Weil du einfach gemerkt hast, dass die wirklich von der Straße kommen. Das waren keine Plastikrapper.

Was muss ein Rapper haben, um für AON überhaupt infrage zu kommen?
Xatar: Einerseits müssen das die Leute auf der Straße verstehen, andererseits aber auch Leute, die einfach gute Musik schätzen. Wir sind alle Flow-Junkies, und sobald jemand flowen kann, hat er uns schon mal. Dann geht es weiter mit den Lyrics – die müssen knallen. Und wenn dann noch die Realness stimmt, ist alles klar. Aber das gibt es nicht so häufig. Deshalb gibt es auch nur so ­wenige Acts auf AON.
Ssio: Es ist aber nicht zwingend erforderlich, dass jemand extrem kriminell auf der Straße unterwegs ist.
Xatar: Doch! Er muss kriminell sein! Ich will Vorstrafen! (Gelächter)
Ssio: Okay: Drogendealer, Zuhälter, Diebe. Wenn jemand nicht klaut, dann darf er maximal ein Feature machen.
Xatar: Er muss einfach wissen, wie man aus Schrott Flex macht.
Ssio: Und er muss es schaffen, aus einem Kontingent von 45 Wörtern ein Album zu produzieren – dreißig davon Kraftausdrücke!

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Xatar, im letzten JUICE-Interview hast du gesagt, dass es bei euch nur um die Musik geht. Dennoch sind bei euch – vor allem bei Ewa und dir – die Kunstperso­nen sehr eng mit einem Image verbunden. Wie wichtig sind diese Images für euch als Label?
Xatar: Das sind zwar Images, aber die sind nicht ausgedacht, sondern authentisch. Wir sind alle, was wir sind. Es gibt ja viele Menschen, die so sind wie wir – die können bloß nicht alle rappen.

Bei AON lief es nicht immer so gut wie jetzt – gerade nach deiner Verhaftung lag das Label nahezu brach. Gab es mal die Überlegung, AON ad acta zu legen?
Xatar: Als Samy und ich 2010 in den Bau gewandert sind, lief zwar nichts bei AON, aber nur, weil wir wegen der laufenden Verhandlungen die Füße stillhalten mussten. Deshalb haben wir zwei Jahre lang eine Mediensperre verhängt und mussten versuchen, zu dribbeln. Aber nicht nur Samy und ich hatten damals juristische Probleme, auch Ssio und Sohail – was bisher kaum jemand weiß. Aber als wir die Mediensperre aufgehoben haben, haben wir gleich wieder reingeschissen. Und zwar richtig!

Was für juristische Probleme hattet ihr denn, Ssio?
Xatar: Die beiden sind auch im Knast gelandet.
Ssio: Das ist zwar aufgrund des Raubes von Shamsedin und Xatar passiert, aber nicht, weil wir daran beteiligt waren.
Xatar: Bei Ssio wurde wegen uns eine Hausdurchsuchung durchgeführt, bei der man Dinge unter seinem Bett gefunden hat, die man dort besser nicht aufbewahrt, wenn die Bullen bei dir einmarschieren.
Ssio: Ja – Koalabären! (Gelächter)
Xatar: Dafür sind die dann auch reingekommen.

Wie lange habt ihr gesessen?
Ssio: Nicht lange. Zwei Wochen. Danach sind wir auf Haftprüfung gleich wieder raus. Aber du hast dann direkt Meldepflicht, Auflagen…
Xatar: …und musst aufpassen, das du nichts machst, wodurch du gleich wieder reinkommst.

Wenn andere Labels zwei Jahre dicht machen würden, wären sie weg vom Fenster. Bei euch war das Interesse an neuem Material eurer Künstler jedoch stets da. Wie ist euch das gelungen?
Xatar: Weil AON nicht auf Promo basiert. Wir überzeugen nicht mit Promo, sondern mit musikalischer Qualität.
Ssio: Wir versuchen stets, uns mit jeder neuen Platte zu toppen. Das ist aber nicht leicht, denn bisher haben wir mit jedem ­Release einen Meilenstein für deutschen Rap abgeliefert. Wer etwas anderes ­behauptet, ist ein Lügner.

Dadurch erklärt sich wohl auch der Perfektionismus, für den du bekannt bist.
Ssio: Perfektionisten sind wir alle. Aber: Perfektionismus ist eine Illusion, die man nie erreicht – man kann sich ihm nur annähern. Doch genau das ist unser Anspruch.

 
Apropos: Wie weit bist du mit deinem Album?
Ssio: Fast fertig. Achtzig Prozent stehen bereits. Jetzt geht es nur noch darum, ein paar Features einzuholen, am Arrangement zu feilen, Details auszuarbeiten und das Album rund zu machen. Dieser Kleinkram ist aber sehr zeitaufwändig.

Du hältst die Platte bis zum Release ­unter Verschluss. Hast du tatsächlich noch niemandem irgendwas vorgespielt?
Ssio: Nein, da bin ich total diktatorisch. Ein Album muss erst fertig und richtig abgemischt sein, ansonsten bekommt der Hörer einen unvollständigen und damit falschen Eindruck davon – und das würde der Platte nicht gerecht.

Beim Vs. The Beats in der JUICE vor zwei Jahren war dein Hauptkritikpunkt an den Songs anderer hiesiger Rapper, sie klängen zu deutsch. Was genau meinst du damit?
Ssio: Um das klarzustellen: Das sollte nicht gegen die Herkunft eines Rappers gehen. Oft sind mir hiesige Produktionen aber zu klassisch in Sachen Beats und ­Arrangement – zu Rucksack, wenn man so will. Mir ist das häufig zu cheesy. Da fehlt der Hollywood-Glanz.

Dein letztes Album war sehr aufs Kopfnicken ausgerichtet. Wird das beim ­neuen Album auch der Fall sein?
Ssio: Ja, und zwar noch viel mehr. Ich ­spreche auf dem neuen Album aber auch ein paar neue Themen an: Prostitution, ­Drogenhandel und Fast Food. (Gelächter) Das gab es in Deutschland bisher noch nicht. Ich bin hierzulande also der aller­erste, der Inhalte und Sozialkritik in die Raps reinbringen tut.
Xatar: Conscious, Conscious!

Ihr seid ja nicht nur, wenn man so will, Arbeitskollegen, sondern auch Freunde. Macht dieser Umstand eine Zusammenarbeit leichter oder schwieriger, weil man sich möglicherweise schwer tut, einander zu kritisieren?
Xatar: Den Film haben wir längst hinter uns. Das war vor zehn Jahren vielleicht so.
Ssio: Bei uns gibt’s eh nur zwei Kriterien: Scheiße oder Bombe. Dazwischen gibt’s nichts.
Kalim: Digger, ich habe schon Songs geschrieben, bei denen ich dachte: »Wenn ich den jetzt Xatar oder Ssio schicke – die drehen durch!« Und dann schicke ich den – und es kommen nur Änderungsvorschläge! (Gelächter)

Wie muss man sich eure Zusammenarbeit eigentlich vorstellen, da ihr ja nicht alle in derselben Stadt lebt. Seht ihr euch häufig oder telefoniert ihr vorwiegend?
Ssio: Es gibt so eine Internetseite, die heißt Chat4free, dort wählen wir die Region Bonn aus und dann chatten wir miteinander. (Gelächter) Ich heiße dort Topdog, falls du dich auch mal mit mir unterhalten willst.
Xatar: Das meiste wird telefonisch geklärt, aber wenn es um Grundsatzentscheidungen geht, gibt es auch mal Meetings.

 
Shamsedin, von dir ist bisher noch kein ­Album oder Mixtape erschienen, du warst jedoch auf fast allen bisherigen AON-Platten unter deinem vorherigen Künstlernamen Samy vertreten. Arbeitest du schon an deinem Debütalbum?
Shamsedin: Ja. Und so Gott will, wird das im nächsten Jahr kommen. Ich nehme aber bereits immer mal wieder was auf. Und natürlich schreibe ich viel im Knast.

Wie wird der Sound?
Xatar: Das wird Musik für alle, die gerne Gesang hören, sich das auf Deutsch bisher aber nicht geben konnten, weil es oft zu schwul kommt, wenn Kanaken das machen. Aber wir werden dafür sorgen, dass der Hunger von Leuten, die auf geilen Gesang stehen, endlich gestillt wird. Die Lederjacke, die er gerade anhat, steht für seine Musik.
Shamsedin: Das ist Gesang, der nicht so softy rüberkommt, sondern männlich.
Xatar: Das wird Keith Sweat auf Deutsch. Den pumpt er nämlich jedes Mal, wenn ich bei ihm ins Auto einsteige. So Richtung R. Kelly und Jodeci.
Ssio: Und Helene Fischer. Die hört er auch gerne. (Gelächter)

Du hast aber als Rapper angefangen, oder?
Shamsedin: Ja, schon.
Ssio: Das war kein Rap, das war Ansagen verpassen auf Audiospuren!
Shamsedin: Letztlich ist es mir egal, ob es Rap oder Gesang ist. Ich will einfach nur geile Mucke machen.
Ssio: Das ist melodiöser Sprechgesang.
Xatar: Und inhaltlich geht es nicht nur um Liebe wie bei anderen Sängern. Shamsedin wird zeigen, dass man schöne Musik machen kann, die auch von anderen Themen handelt; Themen, die sein Leben betreffen. Das werden andere Themen sein als das, was man in Deutschland so gewohnt ist –
der Typ war schließlich sechs Jahre im Knast.

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