»Ich bin dankbar für jede Erfahrung/Hab in den Tag gelebt ohne Planung/Aber auch ohne nur eine Sekunde zu chillen, und plötzlich war ein Jahr um«, eröffnet Marvin Game resümierend sein Debütalbum »20:14«. Auch »Echtzeit«, der Name seiner Tour, deutet bereits an, worum es dem Immer.Ready-Member geht: um Zeit – denn getreu dem alten, uramerikanischen Sprichwort bedeutet diese bekanntlich Geld. Ein ganz normaler Tag im Leben eines Hustlers eben.
Die Faszination der »Tellerwäscher zum Millionär«-Story ist ohnehin mittlerweile in Marvins DNA übergegangen – sein Ehrgeiz kennt keine Rast. Gerade lag er zehn Tage mit Fieber im Bett, was den Vollzeit-Hustler nicht nur physisch an seine Grenzen brachte: »Es war schrecklich. Ich hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Ich werde eigentlich nicht mehr krank, weil ich mich gesund ernähre und Sport mache. Dieses Mal hat es mich aber voll erwischt. Ich konnte mich nicht konzentrieren, nichts schreiben oder sortieren, einfach nichts.« Immer ready sein ist nicht bloß Programm, sondern Lebenseinstellung.
Nach gut fünf Jahren Indie-Hustle, in denen Marvin Game zahlreiche Mixtapes, EPs, Videos und Feature-Verses ins WWW streute, hat man die Strukturen für das kommende Album »20:14« optimiert: Grafiker, Buchhalter und Promoter wurden eingestellt; ja, das DIY-Projekt Immer.Ready soll auf das nächste Level kommen. Im vergangenen Jahr spielten Marvin, Mauli, Mister Mex, morten, Chima Ede, Modee, Robo, Lü Rique und Kareem bereits auf der Hauptbühne des splash! und releasten zahlreiche Kleinprojekte: Mister Mex’ »Original EP«, Modees und mortens »Global Players«-EP und Chimas »Principium«-Projekt. Längst toben hier nicht mehr ein paar maskierte VBT-Kids durch Moabit, die zufällig Rapsongs mit hohen Klickzahlen ins Internet laden – man versteht sich als Unternehmen. Über das Videoformat »Hotbox«, bei dem Marvin seit 2016 regelmäßig mit ausgewählten Gästen plauschend Joints teilt, entstehen szene- wie städteübergreifende Kontakte, die letztlich auch zu musikalischen Ergebnissen führen – exemplarisch ist hier der Sommerhit »Koala« anzuführen, den er mit Nimo und Hanybal aufnahm. Doch dieser Öffnungsprozess scheint manche zu überraschen: »Viele nehmen uns so wahr, als ob wir nur für unser Team sind und alle anderen scheiße finden. Aber das ist voll der Quatsch. Nur weil ich meine Leute mag, heißt das nicht, dass ich alle anderen hasse.« So kommt es, dass neben CE$, Adesse, BRKN und Bausa sogar der Reggae-Sänger Nosliw auf Marvins erstem Langspieler auftaucht.
Nach Maulis 2015er Szene-kanonischem »Spielverderber« ist Marvins Release der zweite große Wurf aus den eigenen Reihen. Die ersten Songs sollen aber schon 2013 entstanden sein, erzählt er. Auch hier wird weder die kreative, noch die geschäftliche Kontrolle dem Zufall oder gar einem Label überlassen. »Für mein Album haben wir definiertere Strukturen gebraucht, als wir es mit dem bisherigen Onlineshop hatten. Wir haben drei Mal anderthalb Meter White Board mit allen möglichen Ideen vollgemalt. Außerdem arbeite ich mit Projektmanagement-Apps und so einem Scheiß. Deswegen gucken mich auch alle A&Rs bescheuert an, wenn sie mit mir am Tisch sitzen und mir keine meiner Fragen beantworten können. Ich habe mittlerweile verstanden, wie die Industrie funktioniert, und sehe keinen Sinn hinter der Arbeitsweise eines klassischen Labels.«
Der musikalische Approach aus der Musikmaschine seines Bruders morten ist schnell umrissen: unterkühlte 808-Bässe, sphärisch-verhallende Synthie-Stränge und eine pointierte Draufgänger-Delivery – Marvin Games Kosmos hat dennoch wenig mit dem zu tun, was derzeit als Trap durch die Timelines geistert. »Das ist mir einfach alles zu ‚lustig‘. Ich glaube, die Kategorie, in die ich mich einsortieren würde, wird gerade erst geschaffen. Früher war Authentizität nur mit Straße verbunden: Du konntest nur real sein, wenn du hart bist. Heute kannst du auch authentisch sein, wenn du ehrlich bist.« Anspruch und Qualität setzt er gegen die Schnelllebigkeit des Genres – es geht um Zeitlosigkeit. »Künstler wie Marteria liefern nur alle drei Jahre eine Platte ab, aber entdecken sich selbst in der Musik immer wieder neu. Davon halte ich mehr, als jährlich ein Album zu droppen.«
Eigentlich lässt sich Marvins künstlerische Vision aber mit einem Zitat zusammenfassen, das vor lauter kitschigem Sprüchebildpathos direkt in den nächstbesten Postkartenstand wandern könnte: »If your dreams do not scare you, they are not big enough.« Weder hat er jemals mit seinen Eltern über Beruf wie Berufung als Rapper diskutiert, noch tatsächliche Zweifel an seinem Plan gehegt. Auch nicht, als er während einer USA-Reise (inklusive Album-Video-Dreh) im letzten Jahr ausgeraubt wird: »Klar, wenn dir gerade 25.000 Euro und drei Wochen Arbeit aus dem Auto herausgeklaut werden, stehst du schon vor einem riesigen Fragezeichen. Aber ich würde mich schämen, wenn ich zweifelte – weil das mein Team in Frage stellen würde.«
Überlegungen, die Seite des Spielfelds zu wechseln und sich vermehrt auf die Business- oder Management-Seite zu schlagen, werden schnell wieder ad acta gelegt. Marvin Game ist Rapper aus Überzeugung – und ein Teamplayer: »Der größte Segen ist, dass ich nicht alleine bin, sondern Menschen um mich habe, die genauso fest daran glauben und hart arbeiten wie ich.« Die wirtschaftliche Denke des Terminus »Think Big« hat er sich ohnehin nicht erst während seines halbjährigen USA-Aufenthalts einige Jahre zuvor zusammengeraucht, obwohl der bekennende Kiffer einem auf die Frage, ob er nicht auch die kalifornischen Rauchwaren vor Ort einer ausführlichen Qualitätsprüfung unterzogen habe, ein lapidares »Ja, das auch« entgegensetzt. Der Hustle im Auswärts ist auch nicht durch ein paar Blunts k.o. zu schlagen: »Irgendwann saß ich da und habe mich gefragt: ‚Okay, wofür bist du jetzt nach Amerika gekommen?‘ Dann habe ich mir ein Mic und eine Soundkarte gekauft und jedem gesagt, dass ich Kontakte zu Musikern suche. Ich habe einfach da weitergemacht, wo ich in Deutschland aufgehört hatte.«
Im Gespräch wirkt Marvin aufgeräumt und strukturiert. Trotz seiner Vorliebe für meditatives Grünzeug, entspricht er so gar nicht dem Stereotyp des ramdösigen Dauerkiffers. Er ist quasi die fleischgewordene Selbstoptimierung: »Wenn man in den kleinen Dingen eine Freude und Glück sieht, sucht man nicht mehr nach negativen Dingen. Dadurch entwickle ich mich menschlich weiter, weil ich eine gesündere Persönlichkeit bekomme und ein gesünderes Leben führe«, erklärt er seine Aussage, sich immer musikalisch zu verbessern, solange er sich auch menschlich verbessere. »Wenn ich ein konkretes Ziel habe, sei es in Freundschaft oder Business, gucke ich, was ich tun muss, um da hinzukommen – und trotzdem ein guter Mensch zu bleiben.«
Marvin Game ist überzeugter Perfektionist – eine Eigenschaft, die auch Schattenseiten hat, wie er erläutert: »Jedes Mal, wenn ich mich auf eine Frau konzentriert habe, kam die Musik zu kurz. Und jedes Mal, wenn ich Musik gemacht habe, hat sich die Frau vernachlässigt gefühlt. Ich bin oft gegen eine Wand gefahren – sowohl bei einer Frau, als auch bei Musik«, kommentiert er charmant den Umstand, dass er sich vor allem der Musik verschrieben hat. »Es gab Frauen, die nicht darauf klarkamen, dass ich nicht jeden Abend mit ihnen ‚Wer wird Millionär?‘ gucken kann«, erzählt er ernüchtert. »Aber es gab auch Frauen, die so taten, als ob sie mich verstehen, und mich am Ende hinter meinem Rücken abgefuckt haben.«
Seine Hits »Tunichso«, »Sie³« oder auch eines der aktuellen Vorab-Videos »Kleine« mit Bausa belegen es ohnehin: Der Gewinn, der Verlust oder die Suche nach der Herzensdame durchdringen mal subtil, mal offensichtlich die komplette Diskografie des Berliners – ja, sein Leben richtet sich fast ausschließlich nach diesen zwei besitzergreifenden Gefühlsdompteuren. »Das sind die beiden großen Themen. Ich glaube, es geht so viel um Frauen, weil sie mich inspirieren. Wenn ich mit ihnen Zeit verbringe, kann ich abschalten.« Bei aller bitteren Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht bleibt Marvin ein verkappter Romantiker. »Das Schönste am Leben sind zwischenmenschliche Beziehungen. Doch das geht nicht Hand in Hand, sondern läuft eher nebeneinander her oder blockiert sich gegenseitig. Es wird aber sicher eines Tages klappen.« Love always wins, möchte man beipflichten.
»Es gibt keine Zeit, es gibt nur Prioritäten«, lässt er sich an anderer Stelle zitieren. Sein Debütalbum trägt den Titel »20:14«, eine Minute vor der Prime Time. Ein Name, der den Status Immer.Ready kaum treffender formulieren könnte, denn er beschreibt etwas, auf das es im Geschäft, im Rap, ja, im Leben oft ankommt: das richtige Timing. ◘
Text: Fionn Birr / Foto: Rob Vegas
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