Disarstar – Deutscher Oktober // Review

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Wertung: Fünf Kronen

Muss Rap politisch sein? Marcus Staiger fand auf diese Frage vor 20 Jahren eine klare Antwort: »Bevor ich einen schlechten Rap-Song über politische Themen höre, hör ich lieber einen Song übers Ficken«. Dieser Selektionslogik folgend, herrscht dank Disarstars Album aktuell viel sexuelle Abstinenz in Staigers Playlist. Denn »Deutscher Oktober« ist guter politischer Rap und zugleich das rundeste Album in der Diskographie des jungen Hamburgers. Im Vergleich zu seinen vier Vorgängern hält Disarstar auf seinem fünften Studioalbum nicht mehr am thematischen und stilistischen Spagat zwischen »Klassenkampf & Kitsch« fest. Von melodramatischem Pop-Kitsch – so der früher häufig formulierte Vorwurf der Kritik – fehlt auf dem zwölf Song langen Lockdown-Projekt jede Spur. Stattdessen gibt es ein Konzeptalbum voller Klassenkampf auf düsteren Trap-Beats. Gelegentlich setzen auf »Deutscher Oktober« sogar die Beats aus und Disarstar spricht seine Hörer*innen mit meinungsstarken Statements direkt an. In diesen Momenten wird klar, dass Disarstar in der Deutschraplandschaft 2021 noch immer ein Einzelfall ist, fragt man danach, wer in der Rap-Szene seine politische Haltung musikalisch nicht hinter Ironie versteckt. Statt leerer Phrasen erzählen seine Texte von gesellschaftlichen Gegensätzen: Hier die Work&Travel Erfahrung nach dem Abitur und dort die perspektivlose Nachtschicht bei Burger King (»Australien«), hier die gentrifizierenden Voyeurismus-Tourist*innen und dort die obdachlosen Einwohner*innen Sankt Paulis (»Verloren«), hier die leicht verständlichen Verallgemeinerungen eines (aktuell freigestellten) Bild-Chefredakteurs und dort die Komplexität der Realität (»Nachbarschaft«). Es wird schnell klar, dass Disarstars Aufruf zur politischen Veränderung sich aus einer glaubhaften Beobachtung der gesellschaftlichen Ungerechtigkeitsverhältnisse speist. Der Appell »Du hast die Chance die Lage zu kritisieren, in der die Leute sind« den er im »Intro« an andere Rapper richtet, wird zum Programm seines eigenen Albums. Während Newcomerinnen ihre Streaming-Zahlen durch Social Media Image-Pflege oder strategische Verknappungs-Strategien ankurbeln, spricht Disarstar auf seinem Album mit seinen Hörer*innen ohne einen sichtbaren Hang zur Selbstverstellung. Vielleicht ist es sogar die größte Stärke des marxistisch argumentierenden Major-Label Signings, seiner eigenen Fehlbarkeit durch Ehrlichkeit Transparenz zu verleihen: »Hab Scheiße gefressen und Scheiße gefressen, ich lerne noch«. Auch außerhalb seiner Musik zeigt er diese Transparenz, wenn er in Interviews von den Kämpfen mit sich selbst berichtet. Nicht selten erzählt er dann von seinen Erfahrungen aus einer zerrütteten Jugend, einem nachgeholten Abitur in der Abendschule, seiner politischen Musik als Aggressionsbewältigung, seiner Selbsteinweisung in eine Psychiatrie oder seinem kürzlich begonnenen Jura-Studium. Vielleicht ist es am Ende einfach die politisch entschlossene Bereitschaft eines 27-Jährigen, sich einer schwer verständlichen Welt entgegenzustellen, welche die Texte auf »Deutscher Oktober« für viele seiner Fans so nachvollziehbar macht. Politischer Deutschrap war selten so ehrlich und gut.

Text: Lukas Hildebrand

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