In unserer Reihe »Overlooked« legen wir euch Musik ans Herz, die bisher keine Berücksichtigung auf juice.de gefunden hat, aber sehr hörenswert ist. Sei es, weil die Releasewoche zu voll war, weil andere Termine anstanden oder weil ein Release schlicht unter dem Radar geblieben ist – während man aufgrund des Coronavirus Zuhause bleibt und versucht, physische Interaktionen zu meiden, bleibt genug Zeit, diese Versäumnisse aufzuholen.
Großbritannien hatte den Brexit erst vor ein paar Wochen vollzogen, als das Londoner Duo Skengdo x AM sein Album »EU Drillas« veröffentlichte. Mit der EU-Flagge auf dem Cover und der Mission, Europa zumindest musikalisch zusammenfinden zu lassen.
Skengdo und AM sind Vorreiter und Stars der UK-Drill-Szene. Seit 2017 mischen sie die Musiklandschaft mit Mixtapes auf und haben sich kontinuierlich mehr und mehr Fans erspielt. Die beiden stehen aber auch im Fokus der Polizei, die mit ihrem Vorgehen in den letzten Monaten immer wieder für Kontroversen gesorgt hat. UK Drill wird wegen seiner oft gewaltverherrlichenden Sprache von der Polizei in direkten Zusammenhang mit Gang-Kriminalität gestellt und kann dementsprechend bestraft werden. Videos werden von YouTube gelöscht und selbst ohne den Nachweis einer gewalttätigen Straftat können Songs zu Verurteilungen führen. So auch im Fall von Skengdo und AM, die im Dezember 2018 auf ihrer Tour im Londoner Club »Koko« auftraten. Dort spielten sie den Track »Attempted 1.0« und wurden zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Die Begründung: Der Song und die Lyrics liefern den Beweis, dass die beiden in Gangkriminalität verwickelt seien. Auch das harte Vorgehen der Justiz ist ein Grund dafür, dass Drill aus dem UK so spannend ist, wie aktuell kaum eine anderes Subgenre.
Niederlande, Frankreich, Irland, Schweden, Deutschland
Dass Skengdo und AM jetzt ein Album konzipiert haben, das den Drill-Szenen in ganz Europa Aufmerksamkeit verschafft, zeigt den wachsenden Hype um Drill weltweit. Auf »EU Drillas« befinden sich Rapper aus den Niederlanden, Frankreich, Irland, Schweden und auch zwei deutsche Vertreter sind am Start. Viel mehr Internationalität kann ein Release kaum abbilden. Die Featuregäste liefern dazu nicht zwangsläufig englische Lyrics, sondern flexen in ihrer Muttersprache auf trockene, harte, düstere Beats und sorgen so dafür, dass nur sehr sprachbegabte Menschen alle Texte verstehen können. Darum geht es aber auch gar nicht, denn selbst ohne direkte politische Statements machen Skengdo und AM klar, dass die Musik und das Drill-Movement verbindet. Brexit hin oder her.
Dass die beiden ein gutes Auge für aufstrebende Talente haben, beweisen sie mit Featuregast Casar. Der Mainzer konnte sich im Alter von 16 Jahren einen Deal bei Universal sichern und hat seitdem gezeigt, dass eine große Rapkarriere nicht unwahrscheinlich ist. Casar überzeugt nicht nur mit solider Technik, sondern mit direkten Zeilen über die Straße, die nicht auf bloße Verherrlichung zielen, sondern infrage stellen, weshalb Menschen in die Kriminalität getrieben werden. Dazu haben sich Skengdo und AM mit Luciano einen Star der Deutschrapszene gepickt, der Weitsicht beweist und das Drill-Movement hierzulande in den Mainstream trägt. Deutschrap schlägt sich gut auf diesem internationalen Projekt und zeigt, was in der Zukunft noch möglich sein kann.
Für alle, die Drill in Zukunft noch genauer verfolgen wollen, ist »EU Drillas« der ideale Ausgangspunkt, um sich in das Genre hineinzuarbeiten. Skengdo und AM haben Zusammenhalt abseits politischer Dimensionen demonstriert und außerdem dafür gesorgt, dass Rap aus Europa vielfältig abgebildet wird. Das wird an aufmerksamen Hörer*innen in den USA nicht vorbeigegangen sein und in näherer Zukunft vielleicht zu der ein oder anderen Kollaboration führen.