20 Jahre Ninja Tune // Feature

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Die Engländer mögen Pop erfunden haben, klar, aber wenn es ­darum geht, diese Errungenschaft auf den alljährlichen Preisverleihungen mal anständig zu zelebrieren, versagen die Inszenierungskräfte auf der Insel ähnlich schlimm wie die der Deutschen. Ob Brit Awards, BAFTA oder Mercury Music Prize – das Licht ist zu grell, die Promis zu B und die rundbetischten Säle eher Swindoner Stadthalle als Kodak Center. Begehrt sind die Auszeichnungen trotzdem, gerade der Mercury Prize gilt dank seiner vermeintlichen finanziellen Unabhängigkeit von der Musikindustrie als tatsächliche Vergütung von Talent. Dementsprechend groß ist das Gekreische, als der legendäre Jools Holland den Preis für das beste Album 2009 nicht an Kasabian oder La Roux, sondern an Big Dada-Rookie Speech Debelle verleiht. Sie boxt sich durch die eigene Entourage, nimmt artig die Trophäe entgegen, blickt dann spöttisch in die Runde und verkündet im breitesten Cockney: “Big up, Invisibles.”

Speech Debelle – Better Days featuring Micachu

Zu diesem Zeitpunkt hat ihr Debüt “Speech Therapy” gerade mal 3.000 Einheiten verkauft. Nicht nur deshalb wirken die ersten Worte ihrer Dankesrede wie die Parole einer Geheimgesellschaft, unhörbar für die Ohren aufgetakelter Starlets und Millionenseller. Wir gehören hier nicht hin, aber ihr könnt nicht ohne uns, und wir nehmen, was wir kriegen können. Die Grundprinzipien dieses Erfolges beherzigen die Artists von Ninja Tune und seinen Ablegern (Big Dada, Counter, Ntone) seit mittlerweile 20 Jahren: genau zuhören, Trends nicht wahllos befeuern, sondern die Konstante im Hype suchen und mit hochklassigen Underground-Alben dem Mainstream die Marschroute vorgeben. Über die Jahrzehnte entstanden somit genrebegründende Blueprint-Platten von u.a. The Herbaliser, Mr. Scruff, Amon Tobin, Roots Manuva, Wiley, The Bug, Fink, Kid Koala und, selbstverständlich, den Labelgründern Coldcut selbst.

Kid Koala – Basin Street Blues

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The Herbaliser – Something Wicked This Way Comes

Matt Black, eine Hälfte von Coldcut und Gründungsmitglied von Ninja Tune, ist pünktlich zum Interview aus Spanien zurück. Seine Promoter glauben, er wäre in Asien gewesen. Die Werbetrommel zu “Ninja Tune XX”, dem Jubiläums-Box-Set, wird heftig gerührt, und bei den abgerissenen Flugmeilen kommt man schnell durcheinander. “Heavy” sei es, nach 20 Jahren Labelgeschichte noch immer das Gefühl zu haben, für ein weltweites Phänomen verantwortlich zu sein. “Wir sind sehr stolze ­Eltern. Natürlich sind auch wohlgeratene Kinder manchmal kompliziert, aber wir sind eine glückliche Familie. Ich habe meinen eigenen 20. Geburtstag jedenfalls nicht so übertrieben gefeiert wie den von Ninja Tune. Aber nächstes Jahr werde ich 50, da legen wir noch mal einen Gang zu.” Black lacht. “Übertrieben gefeiert” meint hierbei nämlich keine schnöde Werkschau oder Mottoparty in Ninja-Klamotte, sondern ein limitiertes Set, bestehend aus sechs CDs voller unveröffentlichtem (Remix-)Material, sechs exklusive 7”es, zwei Poster sowie eine 192 Seiten starke Hardcover-Version des von “NME”-Schreiber Stevie Chick verfassten Buchs “Ninja Tune – 20 ­Years of Beats & Pieces”. Dazu gibt es auf der das Jubiläum begleitenden Homepage ständig neue kostenlose Downloads, mehrere internationale Release-Partys und und und. Ein paar Briten verstehen es anscheinend doch, sich selbst zu feiern.

Ninja Tune XX London – Ewer Street Car Park – 02.10.10

Die Gründungsgeschichte von Coldcut und Ninja Tune liest sich wie herauskopiert aus dem Handbuch für postmoderne Erfolgsstorys und klingt dabei wie eine Metapher auf die Anfangszeiten von HipHop generell. Ein von seiner Profession gelangweilter Computerprogrammierer und Halbtags-DJ trifft im Plattenladen seines Vertrauens auf einen ehemaligen Kunstlehrer, der seinen Job aufgegeben hat, um Vollzeit hinter der Ladentheke zu stehen. Die Synthese von Kunst­theorie und technologischer Nerdiness, gepaart mit einem durch die harte Rare-Groove-Schule geschärften Sinn für zeitlose Hits, machte Coldcut zu einem der gefragtesten Remix- und Producer-Duos der späten Achtziger. “It’s a good story”, lacht Matt Black heute, angesprochen auf die Symbolträchtigkeit der frühen Coldcut-Tage. “Jon und ich sind beide auf dem Land in der Nähe von Oxford aufgewachsen. Ninja Tune ist also von zwei Oxford-Typen aufgezogen worden – ­genau wie Radiohead.” Nach ersten gemeinsamen DJ-Gigs und einer Radioshow machten Coldcut vor allem durch Pop-Produktionen für Sängerinnen wie Yazz und Lisa Stansfield von sich reden, aber auch ein frisch von Black Uhuru getrennter Junior Reid profitierte von der Cut & Paste-Mentalität von Matt und Jon. Einzug in die Annalen der HipHop-Beamten erhielten sie jedoch vor allem durch ihren epischen Remix von Eric B. & Rakims “Paid In Full”, dessen Verwendung eines Ofra Haza-Samples bis heute zu den bekanntesten Patchworks der Musikgeschichte zählt. Das darauf folgende Debütalbum “What’s That Noise?” vereinte HipHop-Prominenz (Queen Latifah) mit Post-Punkern (Mark E. Smith von The Fall) und enterte die britischen Top 20. Wohlgemerkt, das alles geschah zu einer Zeit, als sich hierzulande gerade die ersten Kangol Hats anschickten, HipHop in ein möglichst sitzfestes Korsett aus Regularien und Definitionen einzuschnüren, bloß um dann zu diskutieren, wer es wann wieder auspacken darf.

Coldcut & Hexstatic – Timber

Der eklektische Ansatz, der auch heute noch die ­vielleicht wichtigste Businessstrategie der Ninja Tune-Geschäftsführung darstellt, trägt deutlich die Handschrift von Radio-Legende John Peel. “Sein Einfluss auf Coldcut und auf eine ganze Generation von britischen Musikliebhabern und -schaffenden ist nicht zu überschätzen. Er verkörperte als Erster die Idee, dass es cool sei, verschiedene Musik zu mögen. Und er lebte das wirklich. Wir wiederum brachten Johns Fuck-you-Einstellung in den Mainstream und mischten Popsongs mit den Techniken des HipHop, hatten unseren Spaß damit und feierten die Vielfalt, die die Kultur uns geboten hat. Wenn du die Ninja Tune-Künstler fragen würdest, welchen gemeinsamen Kern ihre Musik hat, würden die meisten deshalb auf HipHop verweisen. Diese ganzen Diskussionen, was HipHop ist und was nicht, können natürlich amüsant sein, aber es gibt darauf keine Antworten.”

Beschriebene Fuck-you-Einstellung und das DIY-Ethos der späten Achtziger erwiesen sich, wenig ­überraschend, als nur semi-kompatibel mit den Vorgängen in der Major-Industrie. Durch ihre Erfolge mit Lisa Stansfield in eine relativ luxuriöse Position bei Arista Records geraten, haderten Matt und Jonathan spätestens zum Zeitpunkt ihres dritten Albums “Philosophy” mit ihrer Situation beim ungeliebten Major. Frustriert von der mangelnden Rückendeckung durch Arista, sahen Coldcut ihre musikalische Zukunft zu Beginn der Neunziger im unabhängigen Vertrieb, wie beispielsweise Depeche Mode es mit Mute Records erfolgreich vorgemacht hatten. “Man kann es Frustration nennen, oder das Bedürfnis, wieder frei arbeiten zu können. Teilweise geht das Hand in Hand, wenn Frustration dich zu etwas Positivem bewegt, kann sie sehr nützlich sein.” Die schlussendliche Idee zu Ninja Tune kam ihnen während einer besonders ­kräftezehrenden Tour durch Japan.
“Das Noble an unserer damaligen Situation ging schnell flöten”, resümiert Black heute. “Klar, man war die ganze Zeit im Taxi und bei ‘Top Of The Pops’, aber das Bild bekommt schnell Risse und die Falschheit der ganzen Maschinerie lässt sich nicht lange ausblenden. Es gibt diese fantastische Szene im neuen Russell Brand-Film ‘Get Him To The Greek’ [“Männertrip” in der deutschen Fassung, Anm. d. Verf.], in der der von ihm verkörperte Popstar von seiner Plattenfirma gekickt wird. Wer mit Major-Labels zu tun haben will, sollte sich diesen Film ansehen, die Darstellung trifft sehr genau zu. Eine schöne Anekdote aus dieser Zeit handelt von einem Meeting bei Arista, bei dem die Chefetage über unser neues Album verhandelt hat. Wir selbst waren nicht anwesend, aber unser Manager. Der Boss von Arista fragte in die Runde, wer sich für das neue Coldcut-Album begeistern könne, er selbst wolle uns vielleicht lieber rauswerfen. ­Niemand hat seine Hand gehoben und sich ­geäußert. Ein sehr junger, neuer Mitarbeiter stand auf und sagte: ‘Coldcut sind Pioniere und ihr Album ist fantastisch, ihr habt alle keine Ahnung, wovon ihr redet!’ Kurze Zeit später kündigte er und gründete eine eigene kleine Firma namens Rockstar Games [u.a. verantwortlich für die “GTA”-Reihe, Anm. d. Verf.]. Arista hingegen ging bald darauf den Bach runter.”
Auch Jon und Matt wollten es besser machen. Im Gründungsjahr 1990 noch allein von den beiden ­Musikern geführt, stellte man für Ninja Tune bald eine ­Assistentin und zwei alte Oxford-Studienkollegen ein. Einer der beiden war Mark Porter, der auch sogleich für das gesamte Artwork der NT-Releases ­verantwortlich gemacht wurde und heute als Grafik-Chef beim “Guardian” angestellt ist. Zusammen mit den ­Designs von Strictly Kev (DJ Food) trugen seine charakteristische Stealth-Ästhetik sowie das weltbekannte Ninja-Logo seit den Anfangstagen erheblich zum Wiedererkennungswert der Releases bei. Eine weitere strukturelle Konstante findet sich nach wie vor im basisdemokratischen Geschäftsmodell: Das Gros der NT-Künstler wird durch 50/50-Deals gleichermaßen fair entlohnt wie in strategische Überlegungen mit einbezogen. Dass man sich überhaupt so fokussiert auf das Tagesgeschäft einer Plattenfirma konzentrieren konnte, lag sicherlich auch daran, dass Arista den Band­namen Coldcut bis 1997 unter Verschluss hielt, so dass sich Matt und Jon zwischenzeitlich nur Nebenprojekten, wie den bahnbrechenden Breaks-Abfahrten von DJ Food, widmen konnten. Der Umschwung vom ursprünglichen Wunsch nach musikalischer Selbstverwaltung hin zur plötzlichen Verantwortung für die Karrieren anderer Künstler verursachte dabei weitere Probleme. “Jon und ich haben uns sehr früh darauf geeinigt, auch untereinander alles 50/50 zu teilen. Es hat sehr geholfen, dass Peter ­[Quicke, Labelmanager, Anm. d. Verf.], der die Labelarbeit seit einigen Jahren zu großen Teilen übernommen hat, bald zu uns gestoßen ist. Ich bin sicher, er würde zustimmen, dass ein Label zu managen große Verantwortung mit sich bringt. Damit umzugehen kann man nicht studieren, also macht man seine Fehler und muss akzeptieren, dass man manchmal Leuten ungewollt ans Bein pinkelt. Morgen habe ich zum Beispiel ein Abendessen mit einem Mitarbeiter von Ninja Tune, mit dem ich aneinandergeraten bin. Wir haben gemerkt, dass wir trotz unserer gemeinsamen Arbeit einander kaum kennen, also treffen wir uns. Es ist wie immer im Leben: Manchmal benimmst du dich wie ein Arschloch, aber du kannst dich immer entschuldigen und es besser versuchen. Mehr ­bedeutet das Wort ­‘Management’ ­eigentlich gar nicht.” (lacht)

Auch die inhaltliche ­Aufstellung des Labels wandelte sich im Laufe der Jahre. Zu Beginn noch eher als Dance-Imprint wahrgenommen, war Ninja Tune Mitte der Neunziger durch erste Veröffentlichungen von Herbaliser, Funki Porcini und DJ Vadim mitverantwortlich für die plötzliche Allgegenwart von Downbeat, TripHop und Nu Jazz. Da mit Mr. Scruff, Kid Koala et al. bereits ähnlich gepolte junge Genies auf ihre Chance warteten, die Grundlagen des Ninja-Sounds endgültig ad absurdum zu führen, gründete man kurzerhand Ninja Tone, wo man sich zwischen 1994 und 2001 um Technoides von Künstlern wie Journeyman oder Hex kümmerte. Im Zuge der immensen Popularität in den Mittneunzigern expandierte man sogar über den großen Teich und eröffnete ein Büro im kanadischen Montreal. Kurze Zeit später wurde mit Big Dada nicht nur ein weiteres Schwesterlabel, sondern gleichermaßen ein Synonym für immer anspruchsvollen, teils anstrengenden Leftfield-HipHop und progressiven Grime geschaffen. Diplo, Roots Manuva, Wiley, New Flesh, Jammer, cLOUDDEAD und Anti-Pop Consortium sind nur einige der Namen, die auf Big Dada bislang zu Höchstform auflaufen durften. Gitarrenfixierte Indiepop- und Folk-Fans versorgt man wiederum seit einigen Jahren über Counter Records mit überragenden Veröffentlichungen von u.a. Fink, Pop Levi und The Heavy. Dass man bei Ninja Tune heute noch an vorderster progressiver Front kämpft, beweisen die neuen Namen im Tracklisting von „Ninja Tune XX“: Zomby, Rustie, Joker, Mala, Gaslamp Killer, Lorn, Kyle Hall, Scuba, Floating Points oder Dorian Concept stehen für die aktuelle Beat Generation.

In Anbetracht dieser Vielfalt, und vor allem angesichts solcher 2010er Jahreslisten-Sureshots wie den ­Alben von Flying Lotus-Muse Andreya Triana und Bonobo, stellt sich die Frage, warum Ninja Tune das für viele ­lästige TripHop-Stigma scheinbar nicht vollends hinter sich lassen konnte. “Was damals passiert ist, war wirklich gut, aber wir sind nicht stehen geblieben. Es gibt eine neue Welle, und Ninja Tune ist immer noch obenauf, denke ich. Deshalb versuchen wir auch andere Labels zu unterstützen, so wie wir es derzeit mit Brainfeeder machen. Es gibt natürlich noch andere interessante Labels, zumal sich die eigentliche Definition des Labels gerade stark verändert. Wir sind diese Entwicklungen mitgegangen, sonst wären wir nicht mehr hier. Und als Senior Player sollte Ninja Tune anderen Labels beratend zur Seite stehen.”

Mit Zukunftsprognosen hält man sich im Hause Ninja Tune zurück, was sicherlich auch als Resultat aus 20 Jahren selbstverwalteter Kreativwirtschaft zu deuten ist. Aber wenn man eine Ahnung hätte, wie es weitergeht, würde man es vielleicht auch nur gleich bleiben lassen. “We don’t have a Zeitgeist, we have a Zeitriddim”, hat Matt Black mal auf die Frage nach der Problematik der Langlebigkeit in der modernen Popmusik geantwortet. Erklären könne er das heute nicht mehr, versucht es dann aber doch: “Hm, ein Geist ist doch ‘nebulous’, also nebulös auf Deutsch, oder? Siehst du, ich habe keine Lust auf so etwas Unkonkretem zu tanzen, und das Leben sollte ein Tanz sein. Deshalb leben wir nach dem Zeitriddim, den wir selbst mitbestimmen.”

Text: Julian Brimmers

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