Die Aggro-Jahre
Nach dem Platzen der ersten Hype-Blase wurde deutscher HipHop aus dem Untergrund heraus erneuert. Aus dem Berliner Untergrund, wohlgemerkt. Aggro Berlin wurde in den Jahren nach 2003 zum wegweisenden Indie-Label der Szene. Geführt von Kreativkopf und Ex-Writer Specter, dem ehemaligen B-Boy Spaiche und Halil, dem Geschäftsführer vom “Downstairs”-Laden, etablierte Aggro mit den Zugpferden Sido und Bushido den “echten” Rap von der Straße als implizit gesellschaftskritisches Gegenbild zur fröhlich-harmlosen Mittelstands- und Gymnasial-Lyrik der Neunziger. Als Bushido das Label verließ, wurde er als Major-Künstler bei Universal und später als selbständiger Geschäftsmann mit Ersguterjunge sogar zum kommerziell erfolgreichsten Rap-Künstler, den Deutschland jemals hervorgebracht hatte. Gleichzeitig ging jedoch einiges an bis dahin unverrückbaren Werten der HipHop-Community den Bach hinunter. Eine kritische Analyse der Aggro-Ära.
Deutscher Rap will Ghetto werden – und reich
Berlin, Anfang 2004: Ich bin mit Sido zum Interview verabredet. Die quirlige Aggro-Promoterin Kaete holt mich vom Flughafen ab, eine Irrfahrt durch den nicht wirklich schmucken Norden Berlins später parken wir im Schatten hässlicher Außenbezirk-Hochhäuser. Das ist also das Märkische Viertel, ein, nun ja, Ghetto. Ob man einen deutschen Problembezirk so bezeichnen kann, ohne zu relativieren, was “Ghetto” in einem historischen Kontext oder auch nur deutlich ärmeren Gegenden der Welt bedeutet, ob der offensiv betonte Ghetto-Background nun authentisch war oder schlicht erfunden, das wurde in der Redaktion schon im Jahr davor anhand des bahnbrechenden Albums “Vom Bordstein bis zur Skyline” von Sidos damals Noch-Labelkollegen Bushido diskutiert – ohne ein eindeutiges Ergebnis. Denn von dem, was da in Berlin aus dem noch komplett anhand klassischer (deutscher) HipHop-Denkschemata zu erklärenden Battle-Rap entstanden war, hatten große Teile der Szene nur eine vage Vorstellung – geschweige denn, dass man die ganze Berlin-Suppe als das begriffen hätte, was sie jedoch unweigerlich werden würde: die nächste große Epoche im deutschen Rap.
Dass die Bezeichnung “Ghetto” für solche Gegenden wie das Märkische Viertel nicht grundsätzlich abwegig ist, das merke ich, als wir im Aufzug des doch recht verlotterten Plattenbaus in den wasweißichwievielten Stock zu Sidos winzigem Wohnloch fahren: Es riecht nach Pisse. Und als der damals noch spindeldürre Maskenmann verpennt, in Totenkopf-Shirt und Boxershorts die Wohnungstür auf einem dunklen, mit Tags verzierten Korridor öffnet, ist mir klar: “Mein Block” hat zwar spaßige Zwischentöne und lebt zu einem gewissen Teil von übertriebenen Darstellungen, aber Sidos Perspektive lässt sich nicht wegverspotten – dieser Typ, den wir auf das JUICE-Cover zu hieven gedenken, der außer einem “Palmers”-Poster, einer Playstation und einer Wasserpfeife kaum etwas besitzt, kommt von ganz unten. Und, das macht er eine Irrfahrt und diverse Joints später beim Interview im Aggro-Kellerhauptquartier klar: Er will ganz nach oben. Damit sind nicht Props aus der Szene und der Slot ganz oben auf dem Jam-Flyer gemeint, sondern ganz ausdrücklich höhere Rockstar-Weihen: Geld, Macht und Weiber. Wie man das konkret anstellt, das hatten sich die Köpfe hinter dem bald alles dominierenden Label – allen voran Kreativgenie Specter – schon zurechtgelegt: Kontroverse Texte waren Grundvoraussetzung und ohnehin schon ein Markenzeichen von Rap made in Berlin; daraus schnürte man dann mit entsprechender Optik und öffentlichem Auftreten ein griffiges Image zum dran Reiben oder Liebhaben – an dem, was Aggro Berlin und der spätere Hauptkonkurrent Ersguterjunge in die Läden stellten und bei den damals tatsächlich noch vorhandenen Musiksendern auf Rotation schickten, sollten sich ganz ausdrücklich die Geister scheiden.
Neue deutsche Welle
Es funktionierte: Deutscher Rap war nach ein paar Jahren Langeweile wieder spannend – und vor allem auch wieder relevant. Bushido und die Aggro-Riege waren spätestens 2005 die Aushängeschilder deutschen Raps und sorgten damit nicht nur für klingelnde Kassen und goldene Schallplatten, sondern auch für immense Umwälzungen innerhalb der Szene. Zum einen verursachte der bei jeder Gelegenheit zur Schau gestellte Erfolg und daraus resultierende Wohlstand eine fast schon alberne Goldgräberstimmung bei jungen Rap-Schaffenden in Deutschland. Da die Aggros es unabhängig in die Popwelt geschafft hatten, sah sich plötzlich jeder, der entweder Mic oder Computer bedienen konnte, dazu bemüßigt, ein Label zu gründen – ob überhaupt ein vermarktbares musikalisches Produkt vorhanden war, wurde in vielen Fällen zur Nebensache, “Business” die beliebteste Rap-Vokabel gleich nach “Opfer”. Unabhängig davon, ob man nun mit Musik oder Inhalten einverstanden war, dass Specter ganz besonders clever und Bushido ein knallharter Geschäftsmann sei, darüber war man sich einig – diesbezügliche Respektsbekundungen seitens arrivierter Rapper der “alten” Garde, wenn auch mit Vorbehalt, gehörten zum guten Ton in Interviews.
Besagte Vorbehalte resultierten dabei oft aus der zweiten großen Umwälzung in Rap-Deutschland, nämlich der auf der inhaltlichen und damit letztendlich der Werteebene: Um möglichst griffige Images und öffentlichkeitswirksame Kontroversen herzustellen, verlegten sich Rapper und Labelverantwortliche darauf, die ethnische Identität zum Markenzeichen hochzustilisieren: Der Neger, der Araber, der Deutsche, der “Kanake” – Stereotypen, die der antirassistische Grundkonsens der HipHop-Szene der Neunziger per Fokussierung auf Skills auf ein Mindestmaß heruntergebügelt hatte, standen plötzlich im Mittelpunkt der jeweiligen Images. Während B-Tights “Neger”-Texte von der Kritik zunächst noch als sarkastische Reaktion auf alltäglichen Rassismus (miss-)verstanden und nur von Aktivisten wie den Brothers Keepers als gefährlicher Blödsinn verurteilt wurden, setzte die große Diskussion spätestens bei Fler ein: Klar, seine Erklärung, dass er als blonder, blauäugiger Deutscher in der Berliner HipHop-Szene zu den Außenseitern gehörte und die Betonung seiner deutschen Identität für ihn dementsprechend einen persönlichen Akt der Emanzipation darstellen würde, konnte man ja noch irgendwie gelten lassen. Aber dass die Außenwirkung eine völlig andere war und seitens der Verantwortlichen auch genau so mitgedacht war, sorgte szenein- wie extern für dicke Luft. Nun hatte man eben die absurde Situation, dass ein vornehmlich deutsches Publikum auf einem HipHop(!)-Konzert in der BRD-Provinz zunächst lautstark “Neger!” brüllen wollte, um sich danach kollektiv als Teil der “Neuen Deutschen Welle” patriotisch selbst zu bespaßen. Die JUICE wollte das Spektakel dann auch nicht mitmachen: Fler und sein Offensivpatriotismus wurden zunächst boykottiert.
Braucht Rap Abitur?
Der gesamtgesellschaftlichen Rezeption von deutschem Rap taten die genannten Protagonisten mit ihren mal kalkulierten, mal unabsichtlichen Kontroversen keinen Gefallen. In Rekordzeit veränderte sich das Klischee vom verkifften, aber kreativen und deshalb irgendwie netten Rapper hin zum echt bösen Buben, der in besonders hysterischen Kommentaren plötzlich gewalttätig, frauenfeindlich, rassistisch, antisemitisch und am besten noch Kokainhändler, Nazi, Vergewaltiger und Islamist in einer Person war. Rap wollte in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr kreativ und kritisch sein, sondern deine Mutter in die Urinblase ficken. Befeuert wurde diese Wahrnehmung noch dadurch, dass auch der ebenfalls keine Kontroverse scheuende Berliner Untergrund zunehmend in den Fokus der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien und somit auch in den der großen Medien rückte. Das, was ein Frauenarzt, ein Bass Sultan Hengzt, ein King Orgasmus One, ein MC Basstard, ein MC Bogy, ein Tony D und der Großteil der über Distributionz – damals der Vertrieb für den harten Stoff schlechthin – veröffentlichenden Künstler in die Kinderzimmer schickten, löste bei Jugendschützern, Eltern und Berufsempörten blankes Entsetzen aus: Ein gefährliches Gemisch aus Gewalt, Sex und Menschenverachtung ergoss sich in ihrer Vorstellung ungefiltert in die Köpfe unschuldiger Kinder, und wie bei jedem Thema, das in einer Spiegel-TV-Doku in zehn Gruselminuten auf maximalen Pfui-Effekt hochgeschraubt werden kann, stand der Untergang des Abendlandes natürlich unmittelbar bevor. Sido, Bushido, Bass Sultan Hengzt, Orgi und Frauenarzt waren plötzlich schuld an der verblödeten, gewalttätigen und wild im Rudel fickenden Prekariatsjugend.
Dabei war die inhaltliche Ausrichtung der Künstler im Kontext der Szene eigentlich leicht nachzuvollziehen: Explizit über Sex und Gewalt zu rappen, absichtlich keinen moralisch allgemein vertretbaren Standpunkt einzunehmen, so zu sprechen, wie die Straße eben spricht, das zu erzählen, was auf der Straße eben passiert und sich entsprechend radikal zu geben, das war für die im Schatten eines aus ihrer Sicht spießigen und verknöcherten HipHop-Establishments aufgewachsenen Untergrundkünstler die ästhetische Antithese zu Hamburg-Hippedihop, Studentenrap und Doppelreimgewichse. Mit Verlaub: Diese Radikalkur hatte deutscher Rap zu dieser Zeit auch bitter nötig. Aber wie immer, wenn die Marschroute sich auf ein “schneller, höher, weiter” bzw. in diesem Fall “härter, härter, härter” beschränkt, kam dabei auch reichlich Mist raus. Wer sich 2005 in Erwartung weiterer kompromissloser Untergrundperlen “Rap City Berlin” in den DVD-Player legte, musste feststellen, dass “Straße”, “hart” und “Untergrund” nicht zwangsläufig für prima Erwachsenenunterhaltung stehen, sondern oft genug auch für fürchterlichen Blödsinn mit Fremdschamgarantie. Die Erkenntnis, dass Rap kein Abitur braucht, ging also einher mit der Erkenntnis, dass ein nicht vorhandenes Abitur noch lange kein Garant für interessanten Rap ist.
Vogelgerausche
Der andere große Einfluss auf deutschen Rap der mittleren Nullerjahre kam, ganz traditionell, aus Amerika. Dipset exerzierten vor, wie man zeitgeistige Ignoranz und unreflektierten Materialismus zu Geld macht, Kool Savas und Illmatic adaptierten dieses Rezept schon 2003 äußerst erfolgreich mit ihrem in 24 Stunden hingerotzten, aber unbedingt unterhaltsamen “Freunde der Sonne”-Projekt. Ignorante Punchlines, bunte Alloverprint-Klamotten und die überheblich-lässige Überzeugung, in nullkommanix ein übergeiles “Mixtape” voller übergeiler “Bars” aus dem Ärmel des “flyen” Outfits schütteln zu können, wurden zur Religion einer ganzen Strömung im deutschen Rap. Was einige Künstler auch perfekt beherrschten und sich so mit gekonnten Aufschneider-Sprüchen ihren Platz im “Game” eroberten: Die Referenz-Punchlines der in der Folge gerne als “Vogelgrippe” verunglimpften Phase der bodenlangen T-Shirts, New Era-Helme und Bape-Fälschungen finden sich dementsprechend auf den 2005er Mixtapes “La Vida Loca I & II” von Sentino und “Die linke und die rechte Hand Gottes” von Snaga & Pillath. Wer im selben Jahr über das Splash!-Gelände spazierte, konnte so ziemlich jeden jüngeren Besucher anhand seines Outfits einer der zwei großen Strömungen der Szene zuordnen: Hier die Straßentypen in Colucci und Cordon, dort die flyen Spitterbuben mit Schürze. Dass Sido mittlerweile seine unbedingte Aufmüpfigkeit gegenüber dem alten HipHop-Establishment abgelegt hatte und bei seinem Lieblingsrapper-Auftritt auf besagtem Splash! mit betonter HipHop-Haftigkeit samt Realness-Ikone DJ Stylewarz im Rücken punkten wollte, dankte ihm weder die Messer- noch die Vogelgeräusche-Fraktion: Es flogen Flaschen. Für HipHop-HipHop war es noch zu früh.
Pure Authenz
Denn sich auf HipHop als Kultur und Wertesystem zu berufen, das war eindeutig uncool geworden: Der mit “Carlo Cokxxx Nutten II”, “Von der Skyline zum Bordstein zurück”, ständiger Medienpräsenz und ikonischem Image inzwischen fest als das Gangstarap-Gesicht Deutschlands etablierte Bushido äußerte in Interviews gerne seine Verachtung für Szene und Kultur, und während für die Aggro-Riege und die ebenfalls klassisch HipHop-sozialisierte Spitter-Generation bestimmte Dogmen schlicht so selbstverständlich waren, dass man damit nicht groß hausieren gehen musste, bastelte sich eine neue Fan-Generation und die vermehrt im Rap aktive Straßenfraktion einfach neue Wahrheiten zurecht – gestützt auf die Texte ihrer Vorbilder. Wer die Skills hinter den kunstvollen Beleidigungen und Aufschneidereien von Snaga & Pillath nicht sehen konnte, für den blieb eben nur die Verkleidung, der Angebergestus, die Verherrlichung von Reichtum, die “Deine Mutter”-Lines, das Vokabular samt Vogelgeräuschen – und die Ignoranz. Auf der Straße hingegen setzte sich das Konzept Authentizität als Selbstzweck durch: Obwohl kaum einer den Begriff aussprechen konnte, wurde er zur Lieblingsvokabel aller rappenden Türsteher und Kleinkriminellen. Dass Authentizität nicht bedeutet, dass man schon im Knast war, getickt und gestochen hat, sondern Echtheit im weitesten Sinne, das war in den verbalen Auseinandersetzungen der nächsten Zeit egal. Ob nun Shok Muzik in Richtung Aggro schossen oder La Honda in Richtung Bushido – stets war das Argument, dass die Angegriffenen überhaupt nicht, die Angreifer hingegen ganz besonders “authentisch” wären. Einem dieser Straßenrapper nun vorzuwerfen, dass er den Takt nicht trifft, machte in dessen Welt als Diss überhaupt keinen Sinn. Ihm zu unterstellen, er wäre auf dem Gymnasium gewesen, dagegen schon.
Auf Künstlerebene wurde der alte HipHop-Zopf also bewusst abgeschnitten oder als Thema schlicht als altbacken und nicht mehr notwendig angesehen, auf Fan-Ebene kam dementsprechend eine vom HipHop entfremdete Version von Rap an. Die hart formulierte Antithese zu Jam-Huberei und HipHop-Eierkuchen in Form von Straßen-, Porno oder Gangster-Rap bzw. Punchlinegeballer galt vielen jungen Fans mittlerweile als der essenzielle Ausdruck von Rap. “Blumentopf hat doch mit Rap nix zu tun”, solche Sätze konnte man zur Genüge im mittlerweile dank Foren, MySpace und YouTube völlig demokratisierten Internet lesen. Klar, denn “Rap kommt von der Straße” und muss “authentisch sein”. Oder eben hart. Oder zumindest flye Sneakers sporten. Den Impact dieser Haltung konnte ich anhand der in rauen Mengen eintrudelnden Demos nachhören: Wer nicht völlig hängengebliebenen Müsli-Rap mit echten Instrumenten veranstaltete, schickte entweder lieblos hingeschissene Mixtapes mit neben den Takt gesemmelten Fantasiereimen über Bling und die AF1-Sammlung. Oder eben lieblos hingeschissene Straßenrap-Labelsampler mit neben den Takt gesemmelten Fantasiereimen über Gewalt, den Block und die zu opfernden Opfer auf der Betonasphaltstraße. Dass sich das durchschnittliche Irgendwasmuzik-Labelroster nur in der Wahl seiner musikalischen Mittel von Grup Tekkan unterschied und sich so mancher Spitter mit albernen Betonungen gar in Richtung Travestie aufmachte, machte den Demo-Checker-Job zumindest dank der geballten unfreiwilligen Komik spannend.
Beef & Hobby-A&Rs
Eines der Rap-Lieblingsthemen sowohl von Künstlern, Fans wie Entertainment-Medien war, passend zum latent aggressiven Grundton der gesamten Epoche, der Beef: Näher darauf einzugehen, wer jetzt wann was gegen wen gesagt, wer wen warum gehauen oder bewaffnete Cousins vorbeigeschickt hat, würde hier den Rahmen sprengen. Jedenfalls wurden öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzungen zwischen Rappern, Camps und – vermuteterweise – arabischen Großfamilien ein Thema, an dem man kaum mehr vorbeikam. Die beiden Großfehden der Zeit – Kool Savas vs. Eko und Aggro vs. Ersguterjunge – beschäftigten die Foren genauso wie die Teenie-Klatschpresse und dienten nicht wenigen Nachwuchs- bzw. Untergrundkünstlern als Rechtfertigung, selbst ein Fass Disrespekt aufzumachen und in den Ring zu steigen. Ob und ab wann so etwas körperlich werden durfte bzw. sollte, darüber ließ sich auch vortrefflich streiten – vorläufige und den Gepflogenheiten der Straße entlehnte Übereinkunft: Mütter bleiben aus dem Spiel, sonst Faust. Was dann sogar bei einer den inszenierten Streit unter Rappern institutionalisierenden Veranstaltung wie dem auf DVD veröffentlichten Acapella-Battle “Feuer über Deutschland” hin und wieder zu beobachten war.
Ein gutes Argument, um sich aus dem vermeintlichen Kindergarten rauszuhalten, bemühten die damaligen (und auch noch heutigen) Großverdiener des Spiels immer gerne: Warum sich mit Rappern rumschlagen, die in puncto Verkäufe nicht ansatzweise in der selben Liga spielen? Tatsächliche und vermeintliche Verkaufszahlen wurden zur Bekräftigung der eigenen Relevanz per Newsletter kommuniziert und in Foren von selbst ernannten Fachleuten heiß diskutiert – den stinknormalen Fan, der CDs kauft, Konzerte besucht und von den Abläufen hinter den Kulissen nur eine vage Vorstellung hat, den gab es nämlich nicht mehr. Und obwohl die Musikindustrie sich immer mehr in Auflösung befand und sich auch bei den zahlreichen Nachahmern von Aggro Berlin abzeichnete, dass sich deren Erfolg nicht einfach mit den selben Mitteln wiederholen lassen würde, begriffen immer mehr auch nur rudimentär darin involvierte Menschen das ganze Geschehen vornehmlich als Business. Und wollten somit im übertragenen Sinn auf die Gästeliste einer Veranstaltung, zu der ohnehin kaum einer Eintritt zahlt.
Das Ende vom Ghettolied
Massiv – Gehettolied [HD] from Massiv (Official) on Vimeo.
Authentizität, Image, Business, Beef – will man über Massiv diskutieren, kommt man an den wichtigsten Themen der Aggro-Ära nicht vorbei. Im Vergleich dazu, wie sich HipHop noch Anfang des Jahrtausends selbst definiert hat, könnte ein Rapper kaum weiter entfernt von HipHop sein als Massiv. Er ging auf dem Höhepunkt der deutschen Faszination von Berlin-Rap in die Hauptstadt, fest entschlossen, dort eine Rap-Karriere zu starten, koste es, was es wolle – eine andere Option ließ sich der delinquente Schulabbrecher gar nicht offen. Authentisch im Sinne einer Straßen- oder zumindest Rap-Historie konnte der zugereiste Rapper in dem von ihm anvisierten Kosmos von vornherein schon nicht sein, denn kein Mensch kannte den jungen Wasiem, als er sich ins Straßenrap-Game aufmachte, und sein Demo überzeugte eher durch das furchteinflößende Coverfoto denn durch echte Skills. Sein Image, das sich aufgrund seiner ethnischen Herkunft, seiner Statur und seines Organs zwar aufdrängte, war dennoch in wesentlichen Teilen ein Konstrukt: Als er nach Berlin kam, hieß er noch gar nicht Massiv, sondern Pitbull – das programmatische “Massiv” hat sich dem Vernehmen nach sein damaliger Mentor MC Basstard ausgedacht. Die zu repräsentierende Hood war eben nicht das heimische Pirmasens, sondern die Wahlheimat Wedding 65. Und obwohl die Authentizitätsdebatte wie vorherzusehen subito aufflammte, obwohl sein Weg aus der Kleinstadt in die Rap-Metropole sogar im privaten Trash-TV thematisiert wurde, war Massiv in puncto Business für die Unterhaltungsindustrie interessant, die Straße respektierte ihn ganz offenbar und die Foren tuschelten über seinen immensen SonyBMG-Vorschuss.
Massiv war also relevant – erklärbar eigentlich nur durch die Umstände, die sich aus den vorangegangenen Entwicklungen in Rap-Deutschland ergeben haben. Und diese in allen Belangen komplett überzeichnete Version eines Straßenrappers erschien in etwa zu jenem Zeitpunkt auf der großen Rap-Leinwand, als sich die Welle brach: Noch einen kontroversen Rapper mit einem überlebensgroßen Image, noch mal eine Welle von kleinen Klonen dieses Rappers – das konnte deutscher Rap offenbar nicht gebrauchen. Straßenrap mit all seinen Begleiterscheinungen hatte seinen (auch kommerziellen) Peak überschritten und sich endgültig als schlicht regulärer Bestandteil des hiesigen HipHop-Betriebs etabliert. Dass Massiv in Sachen Beef den bisherigen Vorfällen unfreiwillig die Krone aufsetzte, als er nur knapp einem tödlichen Anschlag entkam, erschien vielen nur noch folgerichtig. Beziehungsweise waren Teile der deutschen HipHop-Öffentlichkeit dank der schleichenden Gewöhnung an offensiv vermarktete Images und Promo-Stunts sogar der Ansicht, dass der Vorfall inszeniert gewesen sei. So oder so, für die meisten Verantwortlichen war Straßenrap damit vorerst gegessen, die Faszination war weg.
Und nun?
Dass diese Rap-Epoche langsam aber sicher vorbei sein würde, konnte man nicht nur an Verkaufszahlen messen – vielen ging die ganze stumpfe Asphalt-Chose nach diesen turbulenten Jahren einfach nur gehörig auf den Sack, zumal eine alternative Gegenbewegung von vergleichbarer Größe und Relevanz nicht absehbar war. Zwar hatten sich aus den vereinzelten Lichtblicken im Demo-Stapel ein paar kreative Keimzellen gebildet, die hin und wieder eine Ahnung davon aufkommen ließen, welch heterogenes Künstlervölkchen hinter dem ganzen Beton werkelte, aber zunächst verlegte sich die Kritik auf die vermeintlich logische Weiterentwicklung: “Straßenrap mit Technik” wurde angemahnt. Und den sollte es ja dann auch geben. Allerdings nebst vielem, vielem anderen. Denn wenn diese Ausflüge in inhaltliche Extreme, das Austesten der geschmacklichen Grenzen, das Spiel mit Images, die auf die Spitze getriebene Betonung der eigenen Authentizifizidingbums und die damit erreichte, extrem wichtige Integration der Straße eines gezeigt haben, dann das: Rap in Deutschland ist nach wie vor ein riesiges Betätigungsfeld für ein potenziell breit gefächertes Spektrum an Künstlern, die ihr Ding genau so machen können, wie sie Bock haben. Nicht zuletzt gewann das Game eine Riege neuer Protagonisten, die nebst den arrivierten “Alten” auch unabhängig von der weiteren Entwicklung einflussreich bleiben werden. Deutschrap ohne Sido, Bushido, Fler und Frauenarzt? Heute undenkbar. Auch wenn ihnen mittlerweile nicht mehr so viel daran liegt, die bestehenden Verhältnisse, ähem, in den Arsch zu ficken.
Text: Marc Leopoldseder