Was haben wir geträumt. Und zurecht! Leak um Leak, Feature um Feature, Teaser um Teaser der vergangenen zwei Jahre haben keine Zweifel gelassen: »WLR« wird ein Magnus Opum. Egal, ob auf Tylers »Earthquake«, Solanges »Almeda« oder Leaks wie »Molly« und »Pissy Pamper« – Carti hat zwischen 2018 und 2020 das Rad neu erfunden. Nach Meilensteinen wie »Magnolia« und »Wokeuplikethis*« im Frühling 2017 und dem spektakulären »Die Lit« 2018 ist das nur die konsequente Entwicklung des Hieroglyphen-Rappers. Doch gut Ding will Weile haben und im Gegensatz zu seinen Peers lässt sich Carti Zeit mit den Alben. Feilt an seiner Kunst, bis sie ist, was sie sein soll. Hat Ansprüche an sich, die sich nicht mit einer halbherzig zusammengeschusterten Sammlung durchwachsener Songs in Überlänge befriedigen lassen – Plottwist! Da hat sich das Jahr 2020 auf jeden Fall ein Ass im Ärmel aufgespart und am Morgen nach Heiligabend noch mal die Krallen ausgefahren. »WLR« ist Cartis erster Schnitzer und die fassungslose Enttäuschung seiner Fans die Quittung für ein Album, das auch ganz losgelöst vom rückblickend tragischen Hype nicht besonders gut ist. Dabei ist die Vision eigentlich cool – Hexenjagd meets Moshpit, Dracula auf Mollys. Carti rappt, als hätte er unmittelbar nach einem 400-Meter-Sprint im Anflug eines Krampfanfalls beschlossen, das genau das der richtige Zeitpunkt zum Recorden sei: »Hol schnell das Mic, ich muss JETZT rappen!« Diese teilweise übertriebene Gewalttätigkeit der Vocalperformance auf Instrumentals, die genau zwischen Turn Up, Gummizelle und »Blair Witch Project« liegen, macht richtig was her, geht als Geniestreich unter völlig unzumutbaren 24 Songs aber komplett unter. Tatsächlich ist die Arbeit der Producer fantastisch und Carti selbst kippt das Schiff. Vibe und Power schön und gut, aber die Flows sind immer wieder dermaßen uninspiriert, dass man sich regelmäßig an Deutschrap erinnert fühlt, wo einem die Wiederholung als Stilmittel ebenfalls keine hypnotischen Ohrwürmer beschert, sondern einfach nur stumpf klingt. Und dann diese schrecklichen Features. Future klingt nach Arsch, während Cudi und Kanye zwar ihr Ding machen, dieses Ding hier aber leider nichts zu suchen hat. Das ist Steinzeitrap auf einem Album, das eigentlich ganz im Spotlight des State of the Art stehen sollte. Apropos Kanye, der sogenannte Executive Producer des Projekts. Das muss man sich erst mal trauen: Den Rap-Avantgardisten schlechthin unter seine Fittiche zu nehmen, dessen künstlerische Pionierarbeit der vergangenen zwei Jahre komplett unter den Teppich zu kehren, um dann eine Überlänge von 24 gefühlten Schnellschüssen als Album aufzutischen. Insgesamt klingt »Whole Lotta Red« als wäre es zu 90 Prozent in den letzten drei bis vier Monaten entstanden und wenn man den Gerüchten glauben darf, ist genau das der Fall. Wer eh keine Lust auf Alben hat, kann sich mit »Sky«, »Slay3r«, »Stop Breathing« und ein paar anderen schönen Momenten was für die eigenen Playlists rauspicken. Wer auf ein Gesamtkunstwerk und Evergreen zeitgenössischen Raps gehofft hat, legt sich zu Carti in den Sarg.
Text: Till Böttcher