Sierra Kidd: »Digga, da ist kein Wort auf Deutsch!« // Interview

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Sierra Kidd steht auf dem bisherigen Höhepunkt seiner Karriere. »Rest In Peace« soll sein Opus Magnum werden. Dass er nicht das Cover der aktuellen JUICE-Ausgabe ziert, stört ihn. Nach einer hitzigen Diskussion über diese Entscheidung wird der 20-Jährige aber schnell wieder freundlich und beantwortet entwaffnend ehrlich und emotional alle Fragen. Ein Interview mit erfrischend offenem Visier.

Auf »Rest In Peace« ist jeder einzelne Songtitel auf Englisch. Warum?

Das haben wir erst im Nachhinein gemerkt. Als wir fertig waren, hat Mena die Tracklist angeschaut und gesagt: »Digga, da ist kein Wort auf Deutsch!« In früheren Versionen waren sogar noch deutsche Tracks drin, die sind dann zufällig aber nach und nach rausgeflogen. Musik ist halt was Organisches. Leute müssen davon wegkommen, zwei Jahre an einem Song zu arbeiten und dann zu denken, das wäre es dann. Ein Song wird nicht besser, nur weil man lange daran sitzt. Und wenn man das tut, heißt das nicht, dass man gut ist, sondern nur, dass man ein Idiot ist.

In deiner Deluxe Box stecken fünf CDs.

Ja, it’s all about music! Ich habe immer gesagt: Boxen sind nichts Schlimmes! Aber eine Box muss geil und sinnvoll sein. Warum muss ich als 20-Jähriger kommen und das machen? Warum hat mir das niemand von den OGs gezeigt? Warum zeigt niemand den Youngsters, wie es geht? Es geht um die Musik, nicht um das Cash – und das müssen wir Jungen dann vermitteln, damit die Alten es checken – das ist krass. Ich will was verändern. Wenn ich sterbe, sollen die Leute sich an mich erinnern. Das erreicht man aber nicht, indem man nur in Interviews sitzt und labert, sondern indem man monumentale Moves bringt. Das will ich machen! Entschuldige, dass ich immer solche Moodswitches habe und manchmal ausraste, aber ich stecke da emotional einfach richtig tief drin.

Dir wird nachgesagt, dass du ­gerne Kanye West wärst und versuchen würdest, dich auch so zu verhalten. Die Stimmungsschwankungen passen da ins Bild.

Tun sie wohl tatsächlich, ja. Aber auch, wenn Leute sagen, ich wäre gerne Kanye – Bruder, auf keinen Fall! Niemand wäre gern Kanye! Glaub mir, niemand will in seinen Schuhen stecken. Das, was er erlebt, will keiner von uns. Schau, wie viele Menschen ihn hassen. Kanye West ist einer der am meisten missverstandenen Künstler unserer Zeit. Ich will nicht wissen, wie es ihm geht. Wie missverstanden ich mich schon fühle, mit meinen 60.000 Instagram-Followern. Ich könnte mich fast umbringen. Ich meine es ernst, ich heule manchmal. Ich fühle mich so missverstanden, das geht mir so nahe. Ich kann das nicht akzeptieren. (schweigt)

Du hast gerade den Tod angesprochen, der für dich schon immer eine große Rolle zu spielen scheint. Dein neues Album heißt sogar »Rest In Peace«. Warum ist das so ein großes Thema für dich?

Seit ich ein kleines Kind bin, habe ich Selbstmordgedanken. Das war schon immer so. Mein Leben war schon immer scheiße, Bruder. Ich komme aus ganz tiefer Scheiße. Leute glauben mir das nicht. Warum? Weil ich trotzdem ein lieber Junge bin. Ich habe nicht vergessen, dass man korrekt sein muss. Was ist das für eine Welt geworden? Darf es keine lieben Leute mehr geben?

Hast du schon einmal mit dem Gedanken gespielt, diese Art zu ändern?

Jeden Tag, Bruder. Aber ich kann nicht aufhören. Es sind immer andere Menschen um mich herum, und jeder lebt von mir. Die, die mit mir sind, leben von mir – aber es sind immer andere. Die wechseln die ganze Zeit durch. Weißt du, wie sich das anfühlt, hier mit dir zu sitzen und zu reden, aber nicht zu wissen, ob wir nächstes Jahr wieder so reden können? Das ist nicht böse gemeint, aber du weißt ja, wie das ist. Das ist hart. Guck mich an: Ich bin ein kaputter Mensch. Ich bin fertig. Du siehst mir an, dass Menschen mich gefickt haben.

Bist du durch dieses Kommen und Gehen von zwischenmenschlichen Beziehungen misstrauischer geworden?

Ich war schon immer misstrauisch. Ich merke das auch, wenn ich gesnitcht werde. Ich weiß das bereits in dem Moment, aber ich lasse es zu. Was soll ich denn machen? Das erste, was du lernst, ist einfach nichts zu sagen. Du lässt dich einfach nicht ficken. Wenn du dich ficken lässt, bist du selber schuld.

Wenn man nichts sagt, lässt man sich doch ficken.

Es ist ja nicht so, dass ich dann in einer Situation bin, in der ich die Hilfe von jemandem brauche, um da rauszukommen. Ich krieg meinen Scheiß nicht zusammen, weil ich meinen Scheiß nicht zusammen kriege. Ich bin nicht zu schwach, um mich zu wehren, und ich werde ja nicht bedroht, dass ich zur Polizei gehen müsste. Aber wenn jemand dich verrät, dann machst du halt weiter und redest nicht mehr darüber. Es ist halt passiert.

Du hast in den letzten Jahren eine große Veränderung durchgemacht, hattest sogar eine Umbenennung angekündigt. Warum veröffentlichst du dein neues Album jetzt doch wieder als Sierra Kidd?

Ich habe mich da einfach noch nicht drum gekümmert. Die Namensänderung ist jetzt nicht das, was im Fokus steht. Das kann ich irgendwann mal in Angriff nehmen, wenn ich merke, dass die Leute nicht mehr mit Sierra Kidd ficken und einen neuen Namen wollen. Sierra Kidd ist gerade groß. Ich habe mit »Xanny« meinen größten Hit gelandet. Mir geht es zurzeit karrieretechnisch besser denn je. Jetzt den Namen zu ändern, wäre dumm. Ich warte da erst mal ab. Mit dem Gedanken spiele ich trotzdem noch. Mit dem neuen Namen muss ich aber natürlich zu hundert Prozent zufrieden sein. Einen dritten Namen könnte ich mir nicht erlauben. Ich bin aber auch noch down mit Sierra Kidd – vor allem nur mit Kidd. Das beschreibt mich auch gut, weil ich noch voll das Kind bin.

Ich nehme dich gerade überhaupt nicht kindisch wahr.

Nein? Das liegt an den Tattoos. (lacht)

Tattoos sind ein gutes Stichwort: Sich in deinem Alter das Gesicht tätowieren zu lassen, braucht entweder verdammt dicke Eier oder eine ordentliche Portion Dummheit. Gerade weil du nicht besonders optimistisch in die Zukunft blickst, ist das ein krasser Point of no return. Wie kam es dazu?

Ich glaube, das ist eher Dummheit. Es ist halt nicht selbstverständlich, davon auszugehen, dass man der nächste große Rapstar wird. Dass es in mir steckt, der größte Rapstar der Welt zu sein, weiß ich. In dir steckt das auch. Aber was macht man daraus? Natürlich ist es ein Point of no return, aber seit ich denken kann, sehe ich mich im Spiegel mit diesen Tattoos. Ich sehe einfach immer mehr wie das aus, was ich wirklich bin. Stell dir vor, du stehst auf das gleiche Geschlecht, aber kannst dich aus Gründen nicht outen. Du fühlst dich, als wärst du in einem Keller gefangen und kannst nicht raus. Ich bin in mir selbst gefangen – weil ich nicht aussah, wie ich aussehen wollte. Aber jetzt, nach den Tattoos, Fitness und so, geht es mir viel besser. Ich kann in den Spiegel schauen und bin ein bisschen glücklicher.

Hast du dich unvollständig gefühlt?

So in der Art. Ich fühle mich immer noch unvollständig, aber es ist auf jeden Fall besser geworden. Der erste Schritt ist gemacht.

Text: Skinny
Foto: Manuel J. Karp

Dieses Interview erschien in JUICE #181

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