Quo Vadis Grime? // Feature

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Ein Londoner Plattenladen im Jahr 2004. Die zumeist männliche Kundschaft ist ratlos. Sie will diese neue Platte. Nur: Wie nennt man das aggressive Synthie-Bassgemisch mit den hektischen Drums eigentlich? Wer ist dieser MC, der aus seinem britischen ­Akzent keinen Hehl macht und das 140-BPM-Uptempo-Gerät locker zerpflückt? Die Situation spitzt sich zu. Der Verkäufer ist ­überfordert. Die Kundschaft sucht nach passenden Begriffen: Urban, 2Step, Garage? Cut. Die Anfangssequenz aus dem “Wot Do U Call It?”-Video des Grime-Godfathers Wiley bringt die Problematik auf den Punkt. Jahrelang wurde in Großbritannien ­gestritten, wie man die neue Musik denn nun nennen solle: Dark Garage, Eskibeats oder Sublow – so gut wie jeder Protagonist hatte einen ­Vorschlag zur Güte. Die Namensfrage war immer auch ein Machtkampf. Sechs Jahre später nennen wir das Kind mehrheitlich Grime. Auch wenn es heute teilweise ganz anders klingt, als man sich das damals vielleicht vorgestellt hat.

Es ist die Mischung der Zutaten, die einerseits unzählige Möglichkeiten birgt, andererseits aber auch eine Einordnung und Kategorisierung des Sounds so schwierig macht. Britische Kulturtheoretiker wie Simon Reynolds machen es sich einfach und bezeichnen schlicht alles, was im UK an HipHop- und House-inspirierter Tanzmusik seit dem Ende der Achtziger aufgetaucht ist, als Teil eines formwandlerischen “Hardcore Continuums”: Acid, Hardcore, Jungle, Drum & Bass, UK Garage, 2Step, Dubstep, Bassline, Funky, Wonky. Tatsächlich hatte die britische Rave-Kultur stets großen Einfluss auf die Grime-Bewegung, so dass es auch heute noch starke Überschneidungen zwischen den einzelnen Szenen gibt. Doch auch amerikanischer Südstaaten-HipHop, jamaikanischer Dancehall und die raue Energie des Punkrock spielen im Grime eine Rolle. Was mit Crews wie So Solid und Roll Deep Anfang des Jahrtausends in Ostlondoner Kellerclubs begann, hat sich inzwischen schon wieder mehrfach mutiert und ist in abgewandelter (lies: weichgespülter) Form mittlerweile auch in den britischen Charts zu winden. Längst gibt es die üblichen Diskussionen darüber, was erlaubt ist und was nicht. Auch wenn das musikalische Subgenre vergleichsweise jung ist, stehen sich Echthalter, Kulturpanscher und Avantgardisten schon jetzt in einem unversöhnlichen Kampf gegenüber. Die Schlagworte erinnern an bekannte HipHop-Diskussionen: Kommerzialisierung, Sellout, Verwässerung, Verrat des Undergrounds. Den einen geht es um die Erhaltung der Hardcore-Kultur, den andereren um Weiterentwicklung und Relevanzbekundung. JUICE zeigt vier verschiedene Perspektiven auf die Musik, die seit Tag eins eigentlich alles sein will – nur bitte kein UK-Rap.

Jammer – Der Kulturbewahrer

»Wir haben diese Szene vor zehn Jahren aufgebaut. Wenn sich Newcomer heute erdreisten, sich über Künstler wie mich zu ­stellen, vergessen sie, was wir damals geleistet haben«. Jahmek Power aka Jammer ist MC und Produzent. Als Endzwanziger gehört er in der immer noch vergleichsweise jungen Grime-Szene schon zum älteren Eisen. Er hat als Teil der 187 Crew und der Nasty Crew mitgeholfen, das Movement überhaupt erst auf den Weg zu bringen. Auf seinen “Lord Of The Mic”-DVDs battlete sich das Who’s Who der Szene. Die Vielfalt an Künstlern und das Talent vieler MCs wurde mit einem Schlag für ein größeres Publikum sichtbar. Erhebliche Teile der Aufnahmen wurden in Jammers »Dungeon«-Studio gedreht, jenem Ort, an dem der einstige Raver Ende der Neunziger angefangen hatte, einen neuen Sound zu kreieren. »Als Wiley und ich anfingen zu produzieren, hörten wir vor allem Jungle, Garage und 2Step. UK Rap war für uns immer uninteressant. Um 2000 fingen wir an, noch stärker zu experimentieren. Die ersten Grime-Tunes waren sehr roh und ungeschliffen. Meist haben wir die Tracks direkt aus dem Studio in die Piratensender gebracht, um zu sehen, wie sie ankommen. Diese Nähe zu unserem Publikum hat Grime damals ausgemacht. Auf der einen Seite bekamen wir dadurch Resonanz, auf der anderen Seite waren Pirate Radios für uns auch das Instrument, um den neuen Sound zu etablieren«.

2010 ist die Musik, die ihre Härte und Attitüde zu großen Teilen aus einer Antihaltung gegenüber einer in großen Teilen scheinbar festgefahrenen Gesellschaft zog, ebendort angekommen. Das bedeutet auch, dass Mainstream-Erfolge mit Grime mittlerweile durchaus möglich sind, andererseits spielen längst andere Subgenres eine größere Rolle: Wonky, Fidget, UK Funky und Dubstep. Über Grime spricht kaum jemand mehr.
Jammer sieht’s gelassen. »Für viele ist Dubstep der neue Trend, aber für mich ist das nichts Neues. Für mich ist Dubstep eigentlich dasselbe wie Grime, nur eben instrumental. Es gehört zur selben Familie«. Seine eigene Musik, die man derzeit auf seinem Debütalbum »Jahmanji« für das progressive britische HipHop-Label Big Dada hören kann, bezeichnet er als »Hardcore Grime«. Redet man von den Ausflügen anderer Grime-MCs in Richtung Funky House, verzieht er nur das Gesicht. Die Tradition roher, ungeschliffener Sounds und anspruchsvoller Highspeed-Flows bleibt auch künftig seine Maxime. Die Notwendigkeit, sich in seiner Musik um größere Zugänglichkeit zu bemühen, sieht er nicht – im Gegenteil. »Wir stehen mit Grime noch ganz am Anfang unserer Entwicklung. Viele von uns haben noch die Härte und Energie in ihren Tracks, die auch Rapmusik früher hatte. Rap ist heute Pop. Wir sind in unserer Entwicklung noch weit davon entfernt. Auch wenn unser Publikum größer wird, läuft unser Sound immer noch nicht im Kaufhaus«. Und was kommt in Zukunft? »Ich habe einen Track, der Grime und Garage verbindet. Das könnte wegweisend sein. Ich kann mir auch vorstellen, Grime mit Reggae-Einflüssen zu produzieren. Prinzipiell will ich meinem Sound aber treu bleiben«.

Foreign Beggars – Das Bindeglied

Echte kommerzielle Erfolge konnten auch die ­Foreign Beggars in ihrer Karriere noch nicht verbuchen. Aber was musikalische Einflüsse angeht, dürfte das Trio zum Spannendsten gehören, was England derzeit zu bieten hat. Neben diversen Spielarten urbaner UK-Tanzmusik hören sie gerne auch Death Metal, Electro und klassischen Bummtschack. Interessanterweise hat sich die Band seit ihrem 2003er Debütalbum stetig weiter vom klassischen BoomBap-Sound weg und immer weiter hin zu Dubstep- und Grime-Einflüssen entwickelt. Zukünftige Tendenz: offen. “Unsere ­erste Platte war vom Sound her definitiv stark vom HipHop der Neunziger inspiriert, aber für uns war es immer wichtig, vielfältig zu sein. Wir waren seit Tag eins ebenso Fans von Def Jux, MF Doom und Necro wie auch von Drum & Bass, Garage und Grime.” Entsprechend spielte das Quartett seit 1997 genauso auf Raves wie auf HipHop-Jams.
»Diese Rave-Elemente kamen am Anfang lediglich nicht so zum Vorschein, weil das Drum & Bass- und Garage-MCing in unseren Anfangstagen als Kunstform einfach nicht weit genug entwickelt war. Das hätte man niemals ernsthaft auf Platte pressen ­können«. Doch schon auf ihrem zweiten Album verließen die Foreign Beggars 2006 das altbekannte UK-Rap-Terrain und ­integrierten vermehrt elektronische Elemente. »Als das Grime-Movement langsam an den Start kam, waren für mich maximal zwei bis drei MCs relevant, die anderen waren lyrisch zu schwach. Auf der anderen Seite sind viele UK-Rapper nicht in der Lage, eine vernünftige Liveshow auf die Beine zu stellen. Das ist bei den Grime-Typen komplett anders. Die kommen halt aus der Tradition von Hostings auf Drum & Bass-Partys und Garage-Raves. Daher ist die Qualität ihrer Liveshows auf einem ganz anderen Level«. Die Mentalität vieler Grime-Artists liegt für sie in den Anfangstagen des neuen Musikgenres begründet: »Als Garage und 2Step immer kommerzieller wurden, gab es eine Gegenbewegung, deren Sound viel düsterer und dreckiger war. Zugleich hatten diese Produktionen viel mehr Raum, so dass sich auch MCs dieser Beats bedienen konnten. Diesen Stil nennen wir heute Grime. Mit Wiley und Dizzee Rascal gewann diese Musik lyrisch enorm und kam dem klassischen Rap auch auf dieser Ebene bedeutend näher«.

Über die Jahre entwickelten die Foreign Beggars aus den verschiedenen Einflüssen eine einfache Formel: »Wir nehmen uns aus allen Musikrichtungen die Elemente, von denen wir profitieren können«. So treffen Grime-Flows auf die ­lyrische Tiefe von HipHop. Das große Problem der englischen Rap-Szene bringt MC Orifice Vulgatron in wenigen Sätzen auf den Punkt: »UK-Rap klingt seit Jahren nur noch wie ein Abklatsch von US-Rap. Da tut sich einfach nichts mehr. Einen James Brown-Drumloop verwursten und darauf über Rap rappen – das ist weder neu noch eigen. Trotzdem sind wir den MCs aus den Staaten immer noch Lichtjahre hinterher. Die UK-Rap-Szene hat einfach viele Chancen verpasst, neue Elemente zuzulassen und zu integrieren«. Vielleicht schwingt in diesen Aussagen auch eine gewisse Verbitterung darüber mit, dass die Experimentierfreude der Foreign Beggars in jener Szene immer noch sehr kritisch beäugt wird.

Mit ihrem dritten Album »United Colours Of ­Beggattron« von 2009 perfektionierte das Trio die Vermischung verschiedener Elemente britischer Urban Music, u.a. auch Dubstep und Wonky. Amon Tobin und sein ‘2 Fingers’-Projekt waren wichtig für uns, weil es Genregrenzen gesprengt hat. Als Rusko mit Gucci Mane kooperiert hat, war das auch großartig, weil Gucci eben kein Grime-MC ist. Wir werden definitiv noch mehr Kooperationen mit Dubstep- und Wonky-Produzenten wagen. Es ist davon auszugehen, dass es zwischen den Genres immer mehr Verschmelzungen geben wird. Es ist cool, dass die MCs aus dem UK jetzt weltweit mitspielen können und es sogar für die Industrie attraktiver geworden ist, mit ihnen zu arbeiten.” So bizarr es klingen mag: Gerade ihre Identität, die sich schon darin abzeichnet, dass Grime-MCs ihren Akzent und damit ihre Herkunft nicht verstecken, macht sie auch für Majorlabels interessant. Im UK stieg spätestens nach dem zweiten Dizzee Rascal-Album die Bereitschaft, Künstlern zuzuhören, die in ihrem lokalen Dialekt rappen. Hatte man all die Jahre davor oft ein Problem bei der Vermarktung der eigenen MCs, eröffneten die Raver von gestern zum ersten Mal eine große Chance für die Industrie. Gleichzeitig gibt es immer wieder Beispiele für Grime-Künstler, die sich von den Majors unverstanden fühlen und daher in den Underground und zu ihrer künstlerischen Selbständigkeit zurückkehren: Der Grime-God­father Wiley etwa lud kürzlich zehn komplette MP3-Ordner gefrustet ins Netz, weil man bei seinem Label zwischen den über 100 Songs keinen einzigen Single-Kandidaten fand.

Tinie Tempah – Der Durchstarter

2010 landete der 21-Jährige seinen zweiten bedeutenden Hit. Mit “Pass Out” eroberte er endgültig auch den Mainstream. “Das Geheimnis meines Erfolges war definitiv der Crossover-Charakter des Stückes. Heute würde ich die Musik, die ich mache, noch nicht mal mehr unbedingt Grime nennen. Für mich ist Grime eher ein Lifestyle und ein Gemisch aus Einflüssen und viel weniger ein eigener Musikstil. Frühen haben uns Speed Garage, 2Step und jede Art von basslastiger Musik umgeben und dazu inspiriert, etwas Eigenes zu erschaffen. Für mich ist die Musik, die daraus entstand, aber keinesfalls Grime. Für mich trifft der Begriff viel eher auf den Lifestyle von Leuten zu, die diese Musik gehört haben und eben vor allem aus London kamen.”
Tinie Tempah ist genau wie Dizzee Rascal ein schlauer Selbstvermarkter: Indem er sich wehrt, zur Grime-Szene gezählt zu werden, setzt er sich selbst auch keine hinderlichen Grenzen. Entsprechend konnte er für sein Debütalbum „Disc-Overy“ mit House-, Electro- und HipHop-Produzenten zusammenarbeiten. »Wir leben im iTunes-Zeitalter. Meine Generation hört genauso Jay-Z wie Coldplay. Musik ist universell. Ich wäre wahnsinnig, wenn ich mir selbst Grenzen setzen würde. Solange man nichts erzwingt, ist für mich alles erlaubt«. Das Konzept ging auf, wie nicht zuletzt eine Kooperation mit der Tate Gallery oder Remix-Anfragen von P. Diddy und Snoop Dogg beweisen. »Ich denke, dass mein Erfolg zeigt, wo Musik aus England in Zukunft hingehen kann. Ich habe meinen eigenen Weg gefunden und die Formel für mich individuell weiterentwickelt. Bei anderen Künstlern ist das genauso. Nimm Giggs und mich. Leute bezeichnen unsere Musik irrtümlich als das Gleiche, nämlich Grime. Aber das ist falsch. Giggs und ich kommen beide aus Peckham, aber unsere Ansätze sind völlig unterschiedlich. Wir zeigen, wie verschiedenartig Musik sein kann, die gerne vereinfacht unter einen Begriff gebracht wird«.

Giggs – Grime vs. Gangsta Music

Wenn man Tinie Tempah tatsächlich mit Giggs vergleicht, scheint es schon sehr verwunderlich, dass beide aus dem gleichen Londoner Stadtteil kommen. Denn während der kultivierte Tinie durchaus das Zeug zu Everybody’s Darling hat, gilt Giggs als der neue Vorzeige-Badboy, direkt aus Englands dreckigem Hinterhof. Nach einem Knastaufenthalt wegen illegalen Waffenbesitzes begann er 2005 zu rappen. Mit seinen bewusst langsamen Flows setzte er sich schnell vom Großteil der UK-Rap- und Grime-Szene ab. »Ich lege eben großen Wert auf den Inhalt, und so können die Leute mir perfekt folgen. Oft haben meine Tracks etwas ­Hypnotisches. Die Leute hören sie bis zum Schluss an, einfach weil sie wissen wollen, wie die Geschichten enden«. In seinen Tracks erzählt er primär Geschichten von der Straße und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. »Sie sagen, meine Musik sei negativ, doch ich spreche nur von den Dingen, die ich täglich sehe«. Vor allem bei der englischen Polizei kommt diese direkte Härte nicht an. »Seit dem Beginn meiner Karriere haben sie versucht zu verhindern, dass ich einen Plattenvertrag bekomme oder auf Tour gehen kann. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass sie alles tun, um mich zum Schweigen zu bringen«. Solchen Widerständen zum Trotz hat es Giggs in einer Zeit, wo es vor allem um Energie und Tanzbarkeit geht, geschafft, die lyrische Ebene im Grime wieder stärker zu betonen. »Ich produziere meine Musik niemals mit dem Hintergedanken, kommerziell erfolgreich zu werden. Würde mir mein Label vorschreiben wollen, wie ich meine Musik machen soll, wäre ich sofort weg. Mir geht es nur um die Liebe zur Musik. Die Charts sind mir egal. Das ist der Unterschied zwischen mir und dem Rest«.

Giggs steht für eine wiederkehrende Systematik im Hardcore Continuum. Immer dann, wenn ein Subgenre scheinbar in kommerzielle Belanglosigkeit abdriftet und unterspült zu werden droht, entwickelt sich im Gegenzug auch eine neue Härte, die sich von den verwässerten Elementen bewusst abgrenzt. Die Verdienste von Vorzeigerappern wie Dizzee Rascal für die Akzeptanz des englischen Idioms in ­Europa und den USA erkennt Giggs zwar an, aber mit der Grime-Szene fühlt er sich genauso wenig verbunden wie mit anderen UK-Rappern. “Das ist schön und gut, aber ich würde auch ohne erfolgreiche Grime-Artists weiter mein Ding machen. Ich komme aus meiner eigenen Szene. Meine Crew SN1 bedeutet mir etwas, der Rest ist mir völlig egal.

Ich hasse es, wenn meine Musik als Grime bezeichnet wird. Das hat nichts miteinander zu tun. Ich mache Gangster Music. Und das ist die Wahrheit.” Auch wenn ihn Kritiker gerne mit den Spittern aus dem ehemaligen Dipset-Chapter um die Londoner S.A.S. Gang in einen Topf werfen, sind ein BET-Award als »Best UK HipHop Act 2008« und eine Chartplatzierung seines Albums “Let Em Ave It” in den Top 100 ein Erfolg für Großbritanniens Young Jeezy. Und auch wenn er den Begriff Grime nicht leiden kann, so spiegelt er auch nur eine weitere Seite des britischen Soundgemischs wieder, das seit zehn Jahren aus der Asche von 2Step, UK Rap und UK Garage entstanden ist. Und wenn Wiley heute noch mal »Wot Do U Call It?« fragen würde, bekäme er wahrscheinlich immer noch genau so viele Antworten wie vor sechs Jahren, als er sie zum ersten Mal stellte.

Text: Julian Gupta / F: Chalkley

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