Marteria: »Ich habe eine unfassbare Dankbarkeit verspürt« // Titelstory

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Dumm gesagt hat dich das fast das Leben gekostet.
Auch wenn du vom Schicksal anderer Leute gehört hast, muss dir das selber passieren. Erst wenn dir dein Körper ein klares Signal gibt – nein, bis hierhin und nicht weiter! –, dann denkst du darüber nach und fragst dich: Will ich das wieder machen, aber es ein bisschen lockerer angehen? Ich brauchte dann nur ein bisschen Menschenverstand, um zu kapieren, dass ich eben nicht der Typ bin für zwei Bier oder eine Flasche Wein zum Fisch. Und deswegen sind diese Tage jetzt für mich gezählt. Aber wer weiß, wie das in fünf Jahren aussieht. Lass mir einen Schicksalsschlag widerfahren, vielleicht drehe ich dann wieder komplett am Rad, weil ich nicht anders mit der Situation umzugehen weiß.

Wie hat sich dein Alltag durch diese ­Entscheidung verändert?
Aktuell ist das megageil, weil ich wieder total scharfsinnig bin und vieles reflektieren kann. Es kommen ganze Brocken vom Gehirn zurück. Das ist wie bei der Lichterkette am Tannenbaum: Da drehst du, und auf einmal funktioniert das kaputte Lichtchen wieder. Plötzlich erinnert man sich wieder an Sachen, die einem dann richtig peinlich sind. Man wird ja durch Drogen und Alkohol nicht zu einem positiveren, netteren Menschen; man wird zum Zombie.

»Wir sind eben ein Haufen Wahnsinniger, die wahnsinnige Musik machen und denken, sie wären noch 21.«

Ich habe dich zum Glück nie so erlebt. Mein Eindruck war immer, dass du ein sehr lebensbejahender, positiver Mensch bist.
Natürlich bin ich das, aber das war ja auch ein Crew-Ding bei uns: alle oder keiner. Wir sind halt Wahnsinnige. Kein Tourbus will uns noch fahren. Nicht, weil wir asi oder unhöflich gewesen wären, sondern weil das immer extrem, exzessiv, krass und laut war. Wir haben das halt abgefeiert, dass wir uns aus den kleinsten Clubs hochgearbeitet haben. Mit Leuten wie Henni [Henrik Miko alias Nobodys Face, Marsimoto-Produzent und Marteria-Live-DJ, Anm. d. Verf.] und José [Kid Simius; Anm. d. Verf.] hat über die Jahre eine Verbrüderung stattgefunden. Da war klar: Wenn das irgendwann abgeht, seid ihr nicht mit einer kleinen Gage dabei, dann habt ihr einen Prozentsatz von Marteria. Wir waren dadurch auf einer steten Welle der Euphorie. Das waren die lustigsten Tage, aber man ist viel schneller gereizt, viel unausgeglichener. Natürlich kann man besoffen oder drauf geile Songs schreiben, das haben die ganzen Rock’n’Roller ja auch so gemacht. Aber diese Scharfsinnigkeit, die ich jetzt besitze, ermöglicht es mir, wie bei einem Zeitsprung in Phasen meines Lebens zurückzuspringen und das zu Papier zu bringen. Das ist der Vorsprung der neuen Platte.

Was waren denn die Folgen für die Crew und den Zusammenhalt, dass du jetzt die Reißleine gezogen hast?
Die Wichser melden sich jetzt einfach nicht mehr, wenn sie feiern gehen. (lacht) Jeder muss ja für sich selber wissen, wie weit er geht. Wir sind eben ein Haufen Wahnsinniger, die wahnsinnige Musik machen und denken, sie wären noch 21. HipHopper eben. Aber mein Wandel ist positiv. Meine erste Show nach dem Nierenversagen war die krasse Open-Air-Show vor knapp 25.000 Leuten in Rostock. Ich hatte bis dahin erst einmal eine Show nüchtern gespielt. Normalerweise habe ich drei Bier getrunken, dann haben wir mit einem Tequila oder Jägi angestoßen und sind raus auf die Bühne – das war ein notwendiger Schutzmechanismus. Ich habe keine Angst vor dieser Konfrontation mit einer krassen Menschenmenge, ganz im Gegenteil, ich lebe dafür. Aber Alkohol vor der Show bringt dich in einen Trance-Zustand. Und dann hab ich das einmal nüchtern gemacht, beim Eier & Speck-Festival in Viersen bei Mönchengladbach – das war so furchtbar! Ich habe mich fünfmal verrappt, weil ich plötzlich so klar im Kopf war. Ich musste beim Rappen auch ständig an andere Dinge denken. Vor Rostock hatte ich also unglaublichen Schiss, zumal lange unklar war, ob ich die Show überhaupt spielen kann. Dreieinhalb Wochen vorher haben wir mit drei Ärzten zusammen entschieden: Ja, wir machen das. Und auf einmal war das mega! Ich hatte eine ganz andere Kontrolle. Wenn man angetrunken ist, neigt man zum Schreien, kackt stimmlich schneller ab. Dann fehlen schnell bestimmte Töne in der Hook, die Luft geht einem aus. Aber auf einmal war ich der Boss, konnte jedem scharf in die Augen gucken. Das war ein Gefühl, das ich sonst nur von Marsi-Gigs kannte, wo man durch die Maskierung in eine Welt eintaucht und eine Figur spielt. Ich hatte plötzlich viel mehr Power. Wieso kommen die Leute denn auf ein Konzert? Die wollen Amok und für zwei Stunden die Zeit vergessen. Dafür zahlen die 40 Euro. Und jeder von denen weiß, dass wir in diesem Moment eine Crew bilden, die gemeinsam abfeiert. Wenn du clean diesen Rausch der Musik erleben kannst, ist das groß.

»Heutzutage wäre es eigentlich das Realste, in einem Song zu sagen: Diese ganzen Drogen sind wacke Scheiße.«

Wie hast du die Zeit bis zu diesem befreienden Moment beim Rostock-Gig erlebt? Das Benefizspiel war Ende März, Mitte Mai wurde dann »Ring der Nebelungen« veröffentlicht, im Juni stand der Rostock-Gig an. Was waren deine Gedanken, als du an der Dialysemaschine hingst?
Lebensverändernde Momente haben sich abgespielt, als ich da lag – Schlauch im Hals, und die Dialysemaschine arbeitet. Da habe ich zwei Dinge realisiert: erstens, wie wichtig Musik war und ist. Du hast da ja vier, fünf Stunden Zeit, also nimmst du dein Handy und deine Kopfhörer mit und hörst dir deine Lieblingsalben an. Zunächst war unklar, ob meine Nieren je wieder funktionieren würden. Also musste ich mich mental mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass ich das für den Rest meines Lebens mehrmals wöchentlich machen muss. Die Ärzte meinten, dass eine 70-prozentige Chance bestünde, dass das so kommt. Also saß ich da mit Musik auf den Ohren und hatte wahnsinnige Gefühlsausbrüche. Ich hätte gedacht, man hört da nur so deepes Emo-Zeug à la Radiohead – ‘n Scheiß! Stattdessen lief »Experience« von The Prodigy, schon immer meine Lieblingsplatte schlechthin, und »Human Behaviour« von Björk – beides Alben von Anfang der Neunziger. Wie die nach mehr als 25 Jahre klingen, ist unglaublich. Da habe ich realisiert, dass Muckemachen der größte Segen auf Erden ist. Ich habe eine unfassbare Dankbarkeit verspürt. Ich glaube auch, dass mein Körper es durch dieses Gefühl geschafft hat und den Kampf gewinnen konnte.

Und Erkenntnis Nummer zwei?
Die kam in dem Moment, als der Arzt mir nicht sagen konnte, ob ich das überleben würde. Ich wurde ja komplett vergiftet eingeliefert. Man denkt, dass dieser Moment der allerschlimmste wäre. Aber das war er überhaupt nicht. Alle anderen haben Rotz und Wasser geheult und waren völlig am Ende, aber ich konnte nur denken: Das war so geil, ich hab so viel geilen Scheiß erlebt. Ich hab mir nie reinreden lassen und hab immer den Wahnsinn gemacht, auf den ich Bock hatte. So war ich zwar die meiste Zeit meines Lebens pleite, aber es war immer total geil. Du hast immer Angst vor diesem Moment, und dann realisierst du: Wenn’s so ist, dann isses so. Es gibt ja dieses Getue: Ich möchte gar nicht so alt werden. Aber das ist Quatsch. Wir haben nur dieses Leben, und das muss so lange gehen wie möglich. Am liebsten 105 werden. Solange es einem gut geht, muss man das beschützen. Und letzten Endes hat mein Körper dann auch gesagt, dass es weitergehen muss. Mittlerweile sind meine Nierenwerte besser denn je. Jetzt bin ich clean und bekomme das Auf-Sendung-Sein, das einem Alkohol und Drogen vermitteln, durchs Angeln.

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