Marc Reis: »Jeder dieser erfolgreichen Künstler sollte auch wissen, dass es irgendwann mal vorbei ist« // Interview

-

MR_095

Die Mannheimer Neckarstadt hat Marc Reis lange hinter sich gelassen. Seit fast sechs Jahren nennt der Deutsch-Amerikaner Berlin sein Zuhause. Anfangs nur als Couch-Gast bei seinem langjährigen Freund Chakuza vor Ort, entschließt er sich 2008 zum Neuanfang in der Hauptstadt. Sein ehemaliger Künstlername Sprachtot gehört seit einem Rechtsstreit der Vergangenheit an. Selbiges gilt für die Gras­tickerei und das Image des kaltblütigen Straßenrappers. 2014 setzt Reis geläutert zur Rückschau an: Auf ­»Nostalgie« trifft sein Bariton auf die flächigen Synthies seines Produzententeams The Stereoids; textlich ist die Aggressivität vergangener Tage erwachsener Abgeklärtheit gewichen. Sein zweites unter bürgerlichem Namen veröffentlichtes Soloalbum bietet eine Introspektive mit Blick in den Rückspiegel.

»Alle wollen Geld und Fame, schöne Frauen und endviel Style/denn scheinbar kommt keiner mehr klar auf etwas Menschlichkeit«, heißt es in »Mittelfinger Reloaded«, der ersten Videoauskopplung. Dem vermeintlichen Rockstar-Lifestyle vieler Rapkollegen und ehemaliger Weggefährten weint Reis keine Tränen hinterher. Im Gespräch gibt er sich gefestigt und erwachsen. Der Druck, mit »Nostalgie« tatsächlich zählbaren Erfolg haben zu müssen: Falls es ihn doch geben sollte, wird er mühelos kaschiert. Stattdessen sieht der Wahlberliner sein musikalisches Schaffen als Farbklecks im sonst eher grauen Berufsalltag. Die Leidenschaft steht wieder im Vordergrund, eine Politur fürs eigene Ego ist die zehnte Soloveröffentlichung des Kolosses aus der Kurpfalz keineswegs. Und statt auf Features langjähriger Weggefährten wie RAF Camora, Megaloh oder Chakuza verlässt er sich dabei ganz auf sich selbst.

Deine Platte wurde größtenteils von den Stereoids produziert. Wie habt ihr zueinander gefunden?
Über RAF Camora, der mir Beats von ihnen vorgespielt hat. Ich fand das Gehörte sofort sehr interessant. Als ich Benno drei Monate später zum ersten Mal im Studio traf, wollte ich direkt wissen, ob sie Lust hätten, etwas für mich zu produzieren.

In Berlin scheinst du auch ganz gut vernetzt.
Das ist eher Zufall. Bei RAF im Studio tummeln sich Gott und die Welt. Die Leute, mit denen ich heute abhänge, kannten mich auch schon zu meiner Zeit als Sprachtot. Für »Nostalgie« war das aber nicht wichtig, da zu dieser Thematik Features nicht so recht passen.

Apropos Nostalgie: wie darf man sich deine Kindheit vorstellen?
Ich bin bei meiner Mutter in Neckarstadt-Ost aufgewachsen. Unter der Woche war ich oft bei meinem Großvater in Ludwigshafen, da meine Mutter arbeiten musste. Mein Opa war ein reicher Mann und wohnte in einem ruhigen Viertel. Das Kontrastprogramm war ziemlich hart: In Mannheim Schlägerei, in Ludwigshafen alles entspannt. Heute hat sich in Neckarstadt viel verändert. Mit der Popakademie kam ein neuer Schwung Leute rein. Von denen hätte vor zehn Jahren nicht einer einen Fuß in den Jungbusch gesetzt. Das war ein sozialer Brennpunkt, da bist du als Deutscher hingegangen, um ohne Geld wieder zu gehen. Jetzt sind viele Leute weggezogen, weil sie keinen Bock auf Studis hatten. Die Musiker haben dort aber viel Kreativität reingebracht.

Trotzdem bleibt Mannheim eine Arbeiterstadt.
Schule bis 16, arbeiten bis 67, sterben mit 70. So ist Mannheim größtenteils.

Wie viel Erfahrung hast du mit dieser Arbeitswelt gemacht?
Ich habe gerappt und Drogen verkauft. Und das so gut, dass ich nicht arbeiten musste. Das hat mich einen Scheiß gejuckt. Dieser Sprachtot-Lifestyle, da ging es ums Rebellieren. Ich bin damals auch mit weniger klargekommen. Erst, als ich Verantwortung für andere Menschen übernommen habe, hat sich das ganz schnell geändert. Ich wollte aber nie vom Amt leben oder das Gefühl haben, jemandem auf der Tasche zu liegen. Mittlerweile bin ich in der Arbeitswelt komplett angekommen und das fühlt sich gut an.

Aber reizt dich das nicht, jetzt, wo das bei so vielen anderen funktioniert, mit der Musik nochmal richtig Geld zu verdienen?
Auf keinen Fall. Ich gönne es jedem, der damit durch die Decke geht. Aber ich bin zu sehr Realist. Ich mache mir Gedanken darüber, was in fünf Jahren sein wird. Dementsprechende Schritte habe ich in Berlin gemacht. Mittlerweile denke ich an meine Familie oder was für eine Schule mein Kind besuchen soll. Ich habe kein Interesse mehr an der Kohle für einen neuen Benz. Ich plane langfristig. Jeder dieser erfolgreichen Künstler sollte auch wissen, dass es irgendwann mal vorbei ist. Ich bin einfach nicht mehr genug Teil dieser Musikindustrie, um jetzt alles auf eine Karte zu setzen.

Es gab die Zeit, als du mit Megaloh ein Album gemacht hast und dann noch ein weiteres Album geplant war. Damals warst du ständig im Gespräch. Wo siehst du dich selbst in der heutigen Raplandschaft?
Ich sehe mich als neuen Künstler. Natürlich habe ich ein gewisses Standing unter Leuten, die mit Musik etwas erreicht haben und zu meinem Bekanntenkreis gehören. Das ist aber intern. Die Kids da draußen nehmen das anders wahr. Als das erste Video zum Album online ging, habe ich mich mal hinreißen lassen, die Kommentare zu lesen. Da scheinen sich Menschen zu tummeln, mit denen ich recht wenig gemein habe. Aber die gehören eben zu einer ganz anderen Generation. Viel wichtiger ist es mir, wenn mich beispielsweise jemand nach einem Feature fragt, der mit seinem Release gerade auf Platz 1 gegangen ist. Selbst wenn ich so eine Anfrage dann ablehne, was auch schon vorgekommen ist. Das mag sich ein bisschen arrogant anhören, aber ich bin sehr eigen, was Musik betrifft. Du hast gerade die Zeit angesprochen, in der ich mit Megaloh bei FOUR Music saß und wir ein Angebot hatten. Da kamen Verlage zu mir und haben gesagt: »Das ist der Betrag, hier musst du unterschreiben.« Damals war ich zu cool dafür. Zu dieser Zeit habe ich auch noch ganz andere Musik gemacht.

Jugendliche Rapfans werden heutzutage ja bombardiert. Dementsprechend schwierig ist es geworden, bei ihnen überhaupt einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Dazu tragen auch die Künstler bei, indem jeder sein Scheißvideo – und ich sage bewusst »Scheißvideo« – mit inhaltslosem Rap online stellt. Da kann man auch nicht erwarten, dass die Hörerschaft intelligenter wird. Es kommt aber auch auf den Anspruch der Künstler an sich selbst an. Ich könnte ganz schnell ein Gesprächsthema liefern, indem ich meine alte Schiene fahre. Ich müsste nur ein paar Leute am Telefon bedrohen und die Aufnahmen auf YouTube hochladen. Sofort hätte man 10.000 Klicks, weil es Kinder gibt, die das lustig finden. Aber ich mache es lieber auf die normale Art. Das ist für mich heutzutage wesentlich wertvoller.

Das scheint die Altersweisheit zu sein.
Na klar. Ich weiß, dass Hiphop auch rebellisch sein muss. Manche Sachen, die ich früher als Sprachtot gesagt habe, waren zu der Zeit durchaus angebracht. Und das bereue ich auch nicht. Das war straight und auf die Fresse. Aber HipHop muss immer mit der Zeit gehen. Damals habe ich harte Musik gemacht und hatte auch viele Verrückte in meinem Umfeld. Aber ich habe das nie gefördert. Ich war immer derjenige, der auch an die Vernunft appelliert hat. Genauso habe ich nie gefeiert, dass ich irgendwem ein halbes Kilo Gras verkauft habe. Das Coole daran war lediglich, dass man mit dem damit verdienten Geld Essen kaufen konnte.

Wieso hast du eigentlich damals nicht gerichtlich darum gekämpft, den Künstlernamen Sprachtot auch weiterhin verwenden zu dürfen?
Mein Manager und Geschäftspartner hatte sich damals die Rechte an meinem Namen gesichert, als wir mit FOUR Music in die Verhandlungen gegangen sind. Als ich das erfuhr, habe ich mich mit nem Anwalt zusammengesetzt. Der meinte zwar, die Chancen wären hoch, den Prozess zu gewinnen, aber es könnte ein bis drei Jahre dauern und wäre mit Kosten von bis zu 5.000 Euro verbunden. Das Geld hätte ich vorstrecken müssen. Ich hatte von so was keine Ahnung. Als ich hörte, es könne drei Jahre dauern, war für mich klar, dass ich nicht klage. Letztendlich habe ich dann auch drei Jahre keine Musik mehr gemacht. Eine Entscheidung, die ich heute anders treffen würde.

Interview: Sascha Ehlert & Jakob Paur
Foto: Mikis Fontagnier

Dieser Artikel ist erschienen in JUICE #157 (hier versandkostenfrei nachbestellen).

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein