Jean Grae – Interview

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Als Nicki Minaj ihre Raps noch an der Straßenecke in Queens abfeuerte, galt Jean Grae längst als eine der talentiertesten weiblichen MCs der Welt. Dass sie über diesen Status auch fast zehn Jahre nach ihrem Debüt nie hinausgekommen ist, liegt an ihrer kompromisslosen Haltung und den daraus resultierenden Struggles in der Musikindustrie. Nachdem sie lange Zeit fast ausschließlich mit Gastauftritten präsent war, stehen für 2011 das Album »Cake Or Death« und diverse andere Projekte an, die mit etwas Glück nicht nur in den gängigen Untergrundforen für Begeisterung sorgen werden. Dort aber mit Sicherheit.

»Arme Jean, was wird dieser Tage nicht alles projiziert auf ihr zierliches Antlitz! Kaum steht da mal eine selbstbewusste, selbstbestimmte und talentierte Frau am Mikrofon, wird sie sogleich zur guten Fee umgedeutet, die den ganzen bösen Foxys und Kims der immer teuflisch glitzernden Rap-Welt das Fürchten lehren soll.« Dieses 2004 in der JUICE abgedruckte Statement hat kein bisschen an Gültigkeit verloren. Auch 2011 dürfte am Echthalterstammtisch noch oft der Name Jean Grae fallen, wenn hände­ringend nach einer Alternative zu Nicki Minaj
gesucht wird.

Dass die als Tsidi Ibrahim in Kapstadt geborene New Yorkerin zu einer Untergrund­ikone werden würde, war nicht unbedingt absehbar. Als Tochter von angesehenen südafrikanischen Jazzmusikern studierte sie »Vocal Performance« an der LaGuardia School of Music & Arts. Trotz dieser klassischen Ausbildung erlag sie schließlich der lebendigen HipHop-Szene ihrer Heimatstadt und begann sich mit Gleichgesinnten wie Mos Def oder Talib Kweli über Rap und Poesie auszutauschen. Mitte der Neunziger schloss sie sich der Crew Natural Resource an, mit der sie – damals noch unter dem Künstlernamen What? What? operierend – die ersten Maxis veröffentlichte. Auch produzierte sie unter dem Pseudonym Run Run Shaw diverse Tracks ihrer Labelkollegen bei Makin’ Records. 1998 trennte sich die Truppe und gleichzeitig änderte sie ihren Rap-Namen nach einer Superheldin aus den »X-Men«-Cartoons in Jean Grae.

Vier Jahre verstrichen, bis sie mit »Attack Of The Attacking Things« ein überaus ­beeindruckendes Debüt ablieferte. Dass sich ihr Talent herumgesprochen hatte, zeigte die Mitarbeit gestandener Künstler wie Masta Ace, Mr. Len oder Da Beatminerz. Gut die Hälfte der Songs produzierte sie in ­Eigenregie, diesmal unter dem Namen ­Nasain Nahmeen. Ein Blick ins Booklet verrät, dass sie schon damals auf Kriegsfuß mit der Industrie stand. Die mit Flüchen gespickten Grüße richteten sich an die A&Rs, die ihr Talent nicht erkannten, so wie an jedermann, der sich von ihr massentaugliche Chart-Hits anstelle von persönlichen Songs wünschte. Trotzdem schien Jean bei Babygrande, zu diesem Zeitpunkt als eines der verheißungsvollsten Indie-Labels der Ost­küste gehandelt, eine passende Heimat gefunden zu haben. Die dort veröffentlichte »The Bootleg Of The Bootleg EP« (2003) sowie ihr zweites Album »This Week« (2004) punkteten bei den Kritikern. Es folgten Gastauftritte bei The Roots, Talib Kweli, DJ Spinna und zahlreichen mehr. JUICE resümierte damals zu »This Week«: »Die wohl persönlichste und reifste, vielleicht sogar beste Platte, die ein weiblicher Solo-MC in den letzten fünf Jahren veröffentlicht hat.«

Sie nur mit anderen rappenden Damen zu vergleichen, greift jedoch entschieden zu kurz. In Sachen Technik und Flow braucht sie sich keineswegs vor männlichen MCs zu verstecken – im Gegenteil, einen Großteil der aktuellen Trap-Rapper würde sie im Battle lebendig zum Frühstück verspeisen. Ihr breit gefächertes Spektrum reicht von Battleraps bis zu ausgereiftem Storytelling. Über einen klaren Vorteil verfügt sie bei ihren persönlichen Texten, existiert für sie doch keine emotionale Hemmschwelle, mit der die männlichen Kollegen so häufig zu kämpfen haben. Dass einhelliges Szenelob nicht automatisch dutzende Anfragen der großen Plattenfirmen nach sich zieht, ist keine neue Erkenntnis. Die Talentspäher aus den
Teppichetagen schienen weiterhin eher auf der Suche nach Damen, die primär mit sexuellen Reizen statt mit Worten zu spielen wissen. Ihren Künstlernamen hat sich Tsidi Ibrahim zwar von einer Superheldin geliehen, ansonsten weigert sie sich aber konsequent, in irgendwelche konstruierten Rollen zu schlüpfen. Ein fein säuberlich entworfenes Image, von der persönlichen Beraterin zusammengestellte Outfits und eine Reduzierung auf den Sex-Appeal – all das wird es bei dem B-Girl aus Überzeugung wohl nie geben.

2005 endete die Liaison mit Baby­grande. Heute kommentiert sie ihren einstigen Arbeitgeber mit zwei simplen Worten: »Fuck Babygrande!« Die Trennung schien sich allerdings als Segen zu erweisen, ebnete sie doch den Weg für einen Deal mit Black­smith, dem Label ihres langjährigen Weggefährten Talib Kweli. Doch die Frustration über das Musikgeschäft blieb auch bei dieser vermeintlichen Traumkonstellation ein ständiger Begleiter. Dies führte sogar so weit, dass sie sich 2008 auf ihrem MySpace-Blog von den Fans verabschiedete.

Diese Entscheidung revidierte sie kurz darauf, wenig später befand sie sich wieder auf Tour, gleichzeitig bot sie ihre MC-Dienste auf dem Online-Kleinanzeigenmarkt Craigslist für 800 Dollar pro Strophe an. Rückblickend auf die bisherige Zusammenarbeit mit Blacksmith meint Jean: »Es gab über die Jahre den einen oder anderen Streit, aber wir haben gelernt zu kooperieren.« Es dürfte ein offenes Geheimnis sein, dass die Zusammenarbeit mit der eigensinnigen Rapperin, die eine sehr detaillierte Vorstellung ihrer Kunst hat, nicht immer einfach ist. Ihr Musikerdasein betrachtet sie dann auch sehr differenziert: »Es gibt Tage, da wache ich auf und wünschte, ich hätte einen normalen 9-to-5-Job. Ich denke, es ist die Stabilität, die einem dann fehlt, während andere Leute genau von dieser Freiheit träumen, die man als Künstler scheinbar hat. Es ist doch immer so – hat man lockiges Haar, wünscht man sich, es wäre glatt.«

Unterm Strich bietet ihr Blacksmith trotzdem die Möglichkeit, ohne Fremdeinwirkung ihre Visionen umzusetzen. Nur gab es bislang kaum die Möglichkeit, sich davon zu überzeugen. Abgesehen von den weiterhin zahlreichen Gastauftritten ist seit »This Week« genau genommen keine neue Musik mehr von ihr erschienen. Die bisher einzige Veröffentlichung bei Blacksmith war das mit Little Brother-Produzent 9th Wonder eingespielte ­»Jeanius«. Die Tracks dieser Scheibe entstanden allerdings schon parallel zu »This Week«. Schluss­endlich leakten beide Alben am selben Tag ins Internet, so dass sich Babygrande dazu entschloss, die Veröffentlichung von »Jeanius« zurückzustellen: »Ich konnte es kaum fassen! Der ursprüngliche Plan wäre gewesen, ‘Jeanius’ etwa ein Jahr nach ‘This Week’ zu veröffentlichen. Rückblickend ist es aber gut, dass ‘Jeanius’ leakte, da wir für das Album sicher nicht die verdiente Aufmerksamkeit bekommen hätten.« Erst 2008 konnte man »Jeanius« auch als Tonträger erwerben, als Blacksmith das unerhört starke Album endlich regulär veröffentlichte.

Mit »The Orchestral Files« (2007) und »The Evil Jeanius« (2008) mit den Produzenten Blue Sky Black Death erschienen in dieser Zeit zwei weitere Alben. Diese waren jedoch von ihrem Ex-Label Babygrande aus herumliegenden Acappellas zusammengebastelt und ohne Jeans Einwilligung veröffentlicht worden. Daher hörte sie sich »The Evil Jeanius« auch erst an, als ein Freund es ihr auf den Computer lud: »Nichts gegen die Produzenten, das sind coole Typen. Es ist nicht ihr Fehler, aber ich habe immer eine sehr präzise Vorstellung, was ich mit einem Beat anfangen will. Daher kann ich mir das Album eigentlich nicht anhören.« Über die Jahre hat Jean erkannt, dass sie diese genauen Vorstellungen am besten umsetzen kann, wenn sie eng mit den Beatschmieden zusammenarbeitet: »Zwischen mir und meinem jeweiligen Produzenten ist es fast wie eine Beziehung. Da ich in meinem Privatleben eine serielle Monogamistin bin, schlägt sich dies auch in musikalischer Form nieder. Ich liebe es, in diesen Beziehungen zu stecken und wenn dann Alben entstehen, ist es, als hätte man ein gemeinsames Baby.« Ein weiteres Album mit 9th Wonder soll bereits im Kasten sein, mit Nottz arbeitet sie an einem noch geheimen Projekt und gemeinsam mit Ski Beatz hat sie die Scheibe »Ski & Jean« aufgenommen, ein »Liebesalbum der etwas anderen Art«.

Die vielen Jahre ohne eigentliche Veröffentlichung hat Jean also nicht ungenutzt verstreichen lassen. Ihr Hauptaugenmerk in dieser Zeit lag aber auf dem nunmehr anstehenden dritten Soloalbum »Cake Or Death«, dessen langwieriger kreativer Prozess der Hauptgrund für die lange Funkstille ist: »‘This Week’ entstand in einem Monat, ‘Jeanius’ in nur vier Tagen, trotzdem sind diese Alben auf ihre Art perfekt. An ‘Cake Or Death’ habe ich fast fünf Jahre gearbeitet, was mich erst ein wenig erschreckte. Ich musste aber erkennen, dass es diese Zeit brauchte, um all meine Erfahrungen in das Album einfließen zu lassen.« Ein weiterer Grund für die ­Verzögerung war eine plötzliche Schreibblockade: »Ich zog mich deshalb eine Weile zurück. Ich beschloss, nichts zu forcieren. Der erste Song, der danach entstand, heißt ‘Nothing To Lose’ und ist ein sehr verstrickter und lyrisch schwerer Song. Kaum hatte ich den Track geschrieben, nahm ich ihn auf und musste dabei in der Booth heulen. Ich war einfach unglaublich froh, dass ich wieder Raps schreiben konnte. Seither gab es zum Glück keine verfluchten Blockaden mehr!«

Gemäß eigener Aussage wird man auf »Cake Or Death« mehr Gesang zu hören bekommen, es wird musikalischer klingen und sich somit deutlich von den bisherigen Veröffentlichungen unterscheiden. Inhaltliche Schwerpunkte werden Liebe und Beziehungen sein. Jean geht es jedoch nicht um die üblichen Klischees, sondern um das Verarbeiten von tatsächlich Erlebtem, was durchaus zu einer inneren Zerreißprobe werden kann: »Auf ‘Cake Or Death’ hört man drei meiner Ex-Freunde entweder etwas sprechen oder singen. Manchmal wurde mir alles zu viel, das ging so weit, dass ich das Album stoppen wollte, weil ich mich dabei nicht mehr wohl fühlte. Es ist hart für mich, über all das zu schreiben, auf der anderen Seite ist es aber auch eine Therapie.«

Das mag abgedroschen klingen, ist aber bei genauerer Betrachtung eine ihrer ganz großen Stärken. Zu ihren besten Werken gehörten seit jeher die autobiografischen, brutal persönlichen und trotzdem immer fernab von Fremdscham stattfindenden Songs. Schon auf dem ersten Album bewies sie diese Fähigkeit mit Tracks wie »Fade Out«, später dann mit »My Story«, wo sie eine Abtreibung im Teenageralter verarbeitet oder den bisherigen fünf Teilen von »Love Song«. Wie sehr Jean ihr Inneres nach außen kehrt, zeigt die Geschichte des sechsten Teils, den man auf »Cake Or Death« hören wird: »M-Phazes gab mir den Beat vor etwa einem Jahr. In dieser Zeit habe ich acht Versionen des Songs geschrieben. Bei den bisherigen Teilen von ‘Love Song’ habe ich jeweils auf eine Beziehung zurückgeblickt. Dieses Mal schrieb ich, während ich noch in einer Beziehung steckte, und ich versuchte, das richtige Ende für den Song zu finden. Immer wenn sich zwischen mir und ihm etwas änderte, setzte ich mich hin und schrieb den letzten Verse um. Es ging hin und her: Es ist super, ich bin glücklich. Es ist traurig, wir trennen uns. Nein, doch nicht, wir heiraten. Irgendwann glaubte ich, dass das Ende des Songs wie eine Prophezeiung dafür sein würde, wie die Beziehung weitergeht. Als ich dann bei M-Phazes in Australien war und merkte, dass er ein bisschen wütend war, weil ich den Beat schon ein Jahr hatte, beschloss ich, den Song endgültig fertig zu schreiben. Es ist der Track geworden, der bei allen Leuten, die ihn bislang hören konnten, heftige Reaktionen auslöst.« Man könnte davon ausgehen, dass dies nun der letzte Teil dieser Serie ist: »Als ich die erste Version schrieb, war ich so glücklich, dass ich fand, dies müsse der letzte Teil sein. Nein, ist es aber nicht. Es wird ganz sicher einen siebten Teil geben.«

Dass sie mit »Cake Or Death« ein gewisses Risiko eingeht, da sich ein Großteil ihrer Anhängerschaft aus der traditionalistisch veranlagten BoomBap-Fraktion rekrutiert, ist der 34-Jährigen durchaus bewusst. Diese Zielgruppe, die sie halb liebevoll, halb belustigt »rappity rap motherfuckers« nennt, soll mit dem ebenfalls noch für dieses Jahr geplanten Album »Phoenix« auf ihre Kosten kommen. Die Arbeit an dieser Scheibe diente ihr auch als Ausgleich zu den vielen Liebesliedern: »‘Cake Or Death’ ist kein straighter Backpack-Rap. Ich weiß aber, dass es viele Fans gibt, die geraden BoomBap wollen – und ich mache sie auch gerne glücklich. Für sie ist ‘Phoenix’, während ‘Cake Or Death’ eine Reise in die Musikalität geworden ist. Die Platte ist wie ein Kurzfilm geraten.«

Ein Interview mit Jean Grae spiegelt genau die Facetten, die man auch in ihrer Musik findet: Ihr Humor, der teilweise ins Zynische abdriftet, blitzt durch, man entdeckt ihre sensible Seite und gleichzeitig nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Womöglich verhindert schon diese Vielfalt, dass die jemals die Masse außerhalb ihrer Kernzielgruppe erreichen wird. Der Echthalterstammtisch hat somit nicht ganz unrecht, wenn er Jean Grae zu einer Art Antithese zu den Nicki Minajs dieser Welt hochstilisiert. Anstatt eine der Unterhaltung dienende Scheinwelt zu erschaffen, bleibt sie sich mit störrischer Konsequenz treu. Aber in solchen Kategorien mag sie nicht denken. Ständig werde sie auf Twitter aufgefordert, Nicki ­Minaj zu zerstören. Doch nach Aufmerksamkeit schreiende Disses sind nicht ihr Ding. In ihrer Welt braucht es Vielfalt und da hat neben Jean Grae auch eine Nicki Minaj ihre Daseinsberechtigung. Schließlich könne sich auch niemand vorstellen, dass es nur einen einzigen relevanten männlichen R&B-Sänger geben könnte. Schlussendlich will sie, und das völlig zurecht, ohnehin nicht nur mit anderen weiblichen MCs verglichen werden: »Es freut mich, wenn ich in deiner Top 5-Liste der Female MCs bin, aber noch lieber bin ich in den Top 5 aller MCs.«

Text: Fabian Merlo
Fotos: Lukas Mäder


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