»Wir machen uns zu sehr Gedanken darüber, wie wir sein wollen« // Deichkind im Interview

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2006, eine Kleinstadt im Westfälischen. Die Veranstaltungsreihe mit dem unsäglichen Namen »Disco Deluxe« hat Deichkind in ein Autohaus gebucht. Während ein paar Jahre zuvor ein paar hundert berucksackte Realkeeper den nordischen HipHop-Ansatz der Hamburger mit auf- und abwiegenden Händen gefeiert hätten, standen nun in der Schlange: die Emo-Mädchen mit karierten Pulswärmern, die Großraum-Gigolos, die progressiven HipHopper, die feierwütigen »Electro«-Atzen, die unentschlossenen Normalo-Radiohörer. Auf Deichkind konnten sich auf einmal alle einigen – und sei es mit Hilfe von Schnaps. Irgendwann hat jeder einmal eines dieser aufblasbaren Plastikboote auf seinen Händen über die Masse hinweggetragen und sich Daunenfedern aus dem schweißnassen Haar gestrichen.

Es war eine Zeit des Umbruchs. MySpace erlebte gerade seine Blütezeit. Hypemachine lieferte uns in Sekundenschnelle den neuesten Erol Alkan-Edit irgendeiner Indie-Kapelle. So langsam zelebrierten die ersten gitarrenverliebten Röhrenjeansträger, lange vor dem unvorsichtig-inflationären Gebrauch des Terminus »Hipster«, den neuen Spagat zwischen der Ernsthaftigkeit von Electronica, dem Druffi-Geklöppel des Techno und der elitären Attitüde der Indiepop-Kultur. Im Nachbarland Frankreich wurde der New Rave von Bands wie Justice oder Simian Mobile Disco vorangetrieben und von der Pop-Journaille bald als neue Rockmusik gefeiert.

Passend dazu lieferten Deichkind in Deutschland einen Parallelentwurf und gleichzeitig auch die Blaupause für ein Genre, das 2010 im HipHop seinen Siegeszug feiern sollte: Die Kreuzung von elektronischer Musik, der Einfachheit halber missverständlich »Electro« getauft, mit parolenartigem Rap. Deichkind bewegten sich mit »Limit« ganz konsequent weg von hanseatischer Schluffigkeit auf Boombap-Basis. Der Schritt war mutig. Denn auch wenn ein Gros der jetzigen Deichkind-Anhänger wenig bis nichts über die lupenreine Rap-Vergangenheit der Band weiß, darf nicht vergessen werden, dass man der ersten großen HipHop-Blase in Urbesetzung zwei gute bis großartige Platten namens »Nur noch fünf Minuten, Mutti« und »Bitte ziehen Sie durch« lieferte. Mit dem Titel »E.S.D.B. (Electric Super Dance Band)« gab man sich selbst ein wegweisendes Alter Ego und mischte die erste Ausgabe von Stefan Raabs »Bundesvision Song Contest« auf. Mit »Aufstand im Schlaraffenland« wurde der electroide Neon-Look in Sound und Bild perfektioniert. Zu dem urtypischen Humor der Bergedorfer gesellte sich noch eine Extraportion Prolltum und der Neuzugang von einem anderen Hamburger Ex-Rapper, nämlich Ferris MC – fertig war die verschlagwortete Auflehnung gegen die 40-Stunden-Woche und all den bürokratischen Alltagswahnsinn.

All das gipfelte in der Exzess-Single »Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)«, die auch gleich mit Remixen von Egotronic und Scooter daherkam, was natürlich auch neue Zielgruppen bediente. Wer Katja Ebstein noch mal genau war, musste man im Zweifelsfall erst mal googlen. Ach die, klar. Ja, doch – lustig. Was folgte, war ein Siegeszug durch Hallen und über Festivalbühnen. Man erinnere sich nur daran, wie Baggys und Shirts auf einmal gegen schwarze Müllsäcke und futuristische Bühnenbilder eingetauscht wurden. Wie man beim »Juicy Beats« gemeinsam mit ­tausenden Fans geschüttelte Bierbüchsen öffnete und einfach schaute, was passiert. Oder der denk- und fragwürdige Showabbruch auf dem »Melt!«-Festival, als um vier Uhr in der Früh so viele Partywütige auf die Bühne geholt wurden, dass das gesamte Konstrukt drohte, wegen des Gewichts in sich zusammenzubrechen.

2008 schloss man mit »Arbeit nervt« konsequent an die Erfolge des letzten Albums an. Im Februar 2009 folgte der tragische Tod von Deichkind-Produzent Sebastian »Sebi« Hackert. Und jetzt, drei Jahre später, nachdem von kreativer Schaffenspause bis hin zur endgültigen Auflösung alles zu lesen war, endlich ein neues Deichkind-Album mit dem Titel »Befehl von ganz unten«. Die Botschaft ist eindeutig: Hier soll ganz im Sinne der vorigen Hymnen ein Gemeinschaftsgefühl geschaffen werden. Wir Hedonisten, die am Wochenende gemeinsam den gepflegten Exzess zelebrieren und uns bis zur Besinnungslosigkeit wegfeiern, proben gemeinsam den Aufstand gegen »die da oben«. Was eigentlich längst zur Stammtischparole in der Dorfschenke verkommen war, wird aus dem Kontext gerissen und allen vom Abiturienten über die Sparkassenazubine bis zum Hartz-IV-Empfänger als Parole in den Mund gelegt.

Interessant wird es, wenn man bedenkt, dass Philipp, Porky, Ferris und La Perla (besser bekannt als DJ Phono) durch ihre berüchtigten Live-Shows und zwei Top-Ten-Alben zumindest in der Musikindustrie mit Sicherheit nicht mehr ganz unten stehen dürften. Die Authentizitätsfrage muss hier also genauso gestattet sein wie die Frage, wie es sich wohl anfühlt, mit Ende 30 noch den Kasper im Müllsack für das Erst­semesterpublikum zu geben. Über das Album wolle man ohnehin gar nicht reden, gibt Philipp gleich am Anfang des Interviews zu verstehen.

Es wird also kein Promotermin, wie man ihn kennt. Klar, die Journalisten werden im 20-Minuten-Takt in die Rohbauhöhle des »nhow«-Hotels an der Spree gelotst und geben sich praktisch die Klinke in die Hand. Ansonsten ist nichts wie sonst. Am Ende des Raumes wurde ein Glücksrad aufgebaut. Hier darf jeder Interviewer einmal drehen. Es winken »unglaubliche Preise« (O-Ton Porky). »Ein Freelancer hat vorhin zehn Gästelistenplätze, ein anderer einen Schlauchboot-Ride beim nächsten Konzert gewonnen. Aber es kann auch dazu kommen, dass das Interview abgebrochen wird – ein riskantes Unterfangen«, so Philipp. »Ich lag heute morgen um vier auch noch wach und habe überlegt, was wir hier eigentlich machen. Die Leute wollen ja was hören von uns. Wir hatten das Gefühl, dass wir das mal übernehmen ­müssen, damit das nachher nicht so langweilig rüberkommt.«

Tolle Idee. Auf dem knöchelhohen Tisch sind filetierte Früchte arrangiert. Es wird Crémant gereicht, geraucht werden darf ohnehin. »Das ist unsere Party«, ruft Ferris aus dem Hintergrund, während er auf seinem iPhone Fotos von alten Live-Shows durchflippt. Ja, das hier ist eine Deichkind-Party. Das ist geschickt. Denn wem, wenn nicht dem durchgeknallten Quartett, würde man eine solche Interview-Show zutrauen? Der Fragenzettel wandert also ganz schnell Richtung Sofaritze. Man plaudert einfach mal ein bisschen drauflos. Auf einem Tischchen neben dem Buffet steht ein Miniaturmodell der neuen Bühne. Und das ist, so hilflos die kleinen Actionfiguren mit den Pyramidenmasken da auch in der Gegend herumstehen, schon beeindruckend. Klar, Deichkind sind seit jeher für ihre Bühnenshows bekannt. 2010 brachte man sogar ein Musical auf die Bühne. An genau dieses ist das neue Bühnenbild auch ein wenig angepasst.

Die geplante Bühne misst stolze 8 x 14 Meter. »Da wird ein Teppich ausgelegt. Darin sind solche QR-Codes wie für die Handykameras eingeätzt und die Bühnenelemente lassen sich bewegen«, begeistert sich Philipp. Auf dem Promozettel wird das Konzept noch genauer erklärt, was gut ist, denn Porky unterbricht das Gespräch und zeigt auf Ferris: »Es wird wieder Zeit, dass wir auf Tour fahren. Ich seh’ das an deiner Beule da vorne. Du hast einen ganz schönen Wanst.« Das mit dem Bäuchlein stimmt. Dennoch: Ferris sieht frisch aus. Das Bremer Drogenmonster scheint geläutert. »Bisschen viel Fastfood«, grinst er und zieht an einer Zigarette. Die aufreibenden Live-Shows als Fitmacher? Die Bühnenoutfits hätten den gleichen Effekt wie Bikram Yoga, sagt Ferris.

Aber wie ist das überhaupt, wenn man da regelmäßig vor tausenden Leuten Krawall und Remmidemmi veranstaltet? »Ich nehme meine Brille vor der Show immer ab und sehe nur eine Masse von Farben«, erklärt Philipp. Ferris, der 2008 zur Band stieß, will dagegen alles sehen: »Ich liebe diese Energie. Wenn die Leute schon anfangen zu schreien, bevor überhaupt was von dir kommt – das haut bei mir voll rein.« Porky: »Wenn du hinterm Vorhang stehst und die Leute schreien, dann bekomme ich schon ein bisschen Angst. Aber wenn der Vorhang fällt und ich mit dem Publikum verbunden bin, ist alles cool.«

In der Tat sind Deichkind-Shows mittlerweile Massenveranstaltungen geworden. Die Jungs halten inne und denken darüber nach, wann sich das alles plötzlich so groß angefühlt hat. »Ich weiß noch, wie wir mal in Hannover einen Auftritt mit Roots Manuva hatten, wo so 300 Leute waren. Sebi stand bei der Show am Mischpult und neben ihm hingen so zwei HipHop-Heads rum. Das war unser erster Auftritt mit den Müllsäcken. Die beiden meinten dann: ‘Ey, Deichkind sind so langweilig!’ und sind abgehauen.« Allgemeines Gelächter in der Runde. »Wir hatten uns vorgenommen, dass wir nur noch die paar Gigs spielen, die wir geplant hatten, um den Laden dann dicht zu machen. Dann haben wir aber gemerkt, dass uns das ­totalen Spaß macht. Das war eine ganz andere Erfahrung. Wir mussten niemandem etwas beweisen und konnten einfach machen«, erinnert sich Philipp, der ein wenig das Kommando im Interview übernimmt. Als einzigem Gründungsmitglied gebührt ihm da eine Sonderrolle.

»Deichkind hat einfach so eine eigene Energie. Selbst wenn keiner mehr in der Band ist, wird sie als künstliche Intelligenz weiterleben. So ein Projekt nimmt dich auch an die Hand«, führt Porky aus. »Es gibt keinen kreativen Chef, sondern es ist eher ein Organismus, in den jeder was reinfüllt.« Der Kollektivgedanke mit wechselnder Besetzung – das ist schon ein Eindruck, den man immer wieder von Deichkind hatte. Dennoch: »Im besten Fall bleibt die Besetzung jetzt erst mal so. Jeder Austritt eines Mitgliedes war anstrengend«, wird Philipp ernst. »Das hatte immer mit Schmerzen zu tun.«

»Klar waren die Kids am Anfang skeptisch. Aber wir haben die einfach gecatcht. Beats in die Fresse und losrocken. Die beste Werbung für uns war Mundpropaganda. Das war quasi unser zweiter Frühling. Daran versuchen wir jetzt eben anzuschließen – das ist gar nicht immer so einfach. Man nimmt Geld in die Hand und denkt, dass das dann irgendwie klappen muss«, räsoniert Philipp. »Manchmal sehne ich mich schon danach, mit all dem zu brechen – ohne diese Erwartungen der Leute. Klar, damals waren wir auch einfach von diesem Befreiungsschlag gekickt. Aber diese großen Shows, die wir jetzt lange hatten, wurden uns langsam auch langweilig. Deswegen kommt nun wieder was Neues, was uns auch wieder kickt.«

Das neue Deichkind-Album ist, entgegen der Erwartungen, tatsächlich nicht so brutal und brachial geworden, wie man es vermuten konnte. Die Vorabsingle »Illegale Fans« hat trotz altbewährtem Rezept bei weitem nicht mehr einen solchen Effekt auf den Hörer wie »Remmidemmi« oder »Arbeit nervt«. Wo ist der Kick? Die Welt hat sich weitergedreht, Ed Banger interessiert keine Sau mehr, die Atzen haben Mallorca ­übernommen und LMFAO regieren die Charts. Hier müssten sich Deichkind abgrenzen. Doch »Befehl von ganz unten« lässt leider etwas an revolutionärer Attitüde und dem alten LMAA-Gedanken vermissen. Vielleicht ganz bewusst. Weniger Krawall, mehr Überbau. In Anbetracht der Tatsache, dass alte Weggefährten wie DJ Koze oder Tobi Tobsen ihre Techno-Musik heute mit einer ganz anderen Ernsthaftigkeit betreiben, wirkten Deichkind zuletzt mitunter wieder wie die Blödelbarden. Ein vordergründiger Eindruck, den »Befehl von ganz unten« vorsichtig versucht zu torpedieren.

Das Bo hat den Ausspruch »Dumm aber schlau« geprägt. Genau dieses Selbstverständnis macht auch das Prinzip Deichkind aus. Die Kollegen von »Spex« formulierten: »Neonfarbene Performanceprolls«. »‘Großkotzige Kleinkunst’ habe ich auch schon gehört«, erinnert sich Porky. Denn auf der einen Seite funktioniert Deichkind besoffen, verschwitzt und zugedröhnt im Kollektiv, zum anderen schwingt subtil immer noch das unbestimmte »Mehr« mit. »Wir machen uns es manchmal auch zu schwer. Wir machen uns zu sehr Gedanken darüber, wie wir sein wollen. Das ist immer so ein Mischmasch. Es gibt ja Leute, die sich künstlerisch ausdrücken wollen und sich in ihrer Kunst ausleben. Genauso gibt es Leute, die einfach Geld machen wollen«, sagt Philipp. »Wir klatschen halt alles zusammen. Die Leute denken wahrscheinlich, da muss noch was dahinter sein«, überlegt Porky. Ob diese Annahme stimmt oder nicht, lässt er offen.

Bevor die Stille unangenehm wird, drehen wir lieber am Glücksrad. Flapp-flapp-flapp. Da steht auch ein Haarschnitt drauf, aber ich muss nur einen Kurzen trinken. Fast ein bisschen langweilig. Ferris ist schadenfroh: »Ich hätte jetzt keinen Bock, einen Wodka zu trinken.« Man quatscht noch ein wenig über dies und das. Man überreicht mir ein kleines Cellophantütchen mit Weihnachtsgebäck und Süßigkeiten. Auf einem Zettel sind die Termine für die anstehende Tour vermerkt. Der nächste Reporter betritt bereits den Raum. »Hast du noch eine Frage?«, fragt Philipp. Eigentlich nicht. Wobei, doch. Wie nehmen Deichkind das eigentlich alles selbst wahr? Geben sie sich bewusst kleiner und volksnäher, als sie sind? Braucht man ­wirklich einen Interview­trainer, wie ­Porky ­vorhin meinte? Fahren sie echt für ein ­Songwriting-Wochenende nach Mecklenburg-Vorpommern? Doch die Chance ist ­vertan, das nächste Interview muss beginnen.

Ist aber auch egal. Man muss gar nicht alles wissen. »Deichkind ist irgendwie jedermann«, hatte Porky vorhin gesagt. So einfach es klingt, genau das ist ihr Erfolgsgeheimnis. Und auch, wenn »Befehl von ganz unten« das selbstgebaute Rad nicht neu erfindet, ist mit Deichkind dieses Jahr fest zu ­rechnen. »Wir haben es uns in so einer Nische ­gemütlich gemacht«, hatte Philipp auf den Punkt formuliert. »Wir machen unser Ding, das merkt man auch. Da fühlen wir uns sicher. Darüber sind wir sehr glücklich. Wir müssen nicht wie irgendwas klingen. Wir sind Deichkind.«

Text: Jan Wehn

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