»Und auch wenn Punk, die frühe Skinheadbewegung und HipHop übergreifend waren, kamen erst mit den Raves wirklich alle Menschen zusammen und haben gefeiert.« // Chase & Status im Interview

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»Gold in der ersten Woche.« Ein Satz, den jeder Rapper gerne wahrheitsgetreu über die Lippen bringen würde. In vielen Fällen ein unmögliches Unterfangen. Chase & Status sind zu bodenständig und entspannt, um Angebereien dieser Art in Worte zu fassen. Doch sie könnten es sich leisten. Ihr zweites Album »No More Idols« verkaufte in nur sieben Tagen 100.000 Exemplare. Von einer extrem prolligen Drum & Bass-/Rave-/Dubstep-LP. Groß jucken tut es die beiden nicht. Solange sie auflegen können, Songs für Popstars schreiben, am Wochenende Fußball schauen und zusammen mit Plan B die ­englische Filmmusik wiederbeleben dürfen, sind sie glücklich.

Sonntagnacht, fünf Uhr. Deine Freundin liegt neben dir im Bett, sie schlummert und schnarcht bereits seit einer Ewigkeit. Du bist seit jungen Teenagerjahren DJ und lebst demnach den abgehetzten Lifestyle eines Vampirs. Die vornehme Blässe ist ein Muss, Sonnenschein überflüssig und früh schlafen geht schon mal gar nicht. Also sitzt du aufrecht auf der Matratze, dein MacBook auf dem Schoß und surfst im Internet. Dein Handy klingelt, du wälzt deinen von ­unzähligen Feiernächten und stetigem Leptinmangel schwammigen Körper zur Seite und siehst eine amerikanische Nummer auf dem Display. Als Teil der britischen Genossenschaft von Jetset-DJs sammelst du Stempel im Reisepass. Da kann es schon mal vorkommen, dass jemand aus Übersee durchklingelt. Am Hörer ist Jay Brown, seines Zeichens leitender Manager von Roc Nation, Sean »Jay-Z« Carters 360-Grad-Firma. Ein echter Big Timer also. Du bist schon etwas länger mit ihm in Kontakt, denn spätestens seitdem Calvin »Snoop Dogg« Broadus einen eurer Beats verwurschtelt hat, sind in der Welt der Spinning Rims alle hellauf begeistert von den tiefen Subbässen aus dem alten Königreich. Jay sagt dir, dass er jemanden habe, der unbedingt mit dir sprechen möchte. Mit übermüdetem Desinteresse willigst du ein und am Telefon erklingt eine merkwürdig bekannte Frauenstimme, die dir mit karibisch angehauchtem Akzent mitteilt, dass sie unbedingt mit dir und deinem Partner arbeiten möchte, ja arbeiten müsse, da sie »Saxon« für den bösesten Beat auf Erden hält. Der überschwängliche Tonfall am Hörer lässt deine Langzeitfreundin aufwachen. Sie legt diesen bekannten, verdächtigen Gesichtsausdruck an den Tag: »Wer is’n das?« »Äh, das ist Rihanna.« »Verarsch mich nicht, du Mistkerl. Wer ist das?« »Hase, sie ist es wirklich.« Zusammengekniffene Augen, ihr Griff wandert unter das Kopfkissen zum allzeit bereit liegenden Nudelholz. Eine heikle Situation. Am Hörer eine der erfolgreichsten Popsängerinnen der Neuzeit und im Bett deine Herzdame, die einen beinahe verständlichen Tobsuchtsanfall erleidet.

Eine wahre Geschichte, die Will »Status« Kennard heute lachend zum Besten gibt. Er ist eine Hälfte von Chase & Status, jenem Producer- und DJ-Team, das für bierdurchtränkte Adidas-Trainingshosen und hüpfbedingte Schwächeanfälle bei britischen Teenagern sorgt. »Das war schon verrückt. Meine Freundin wurde sehr eifersüchtig, was ja normal ist. Es ist mitten in der Nacht, ich spreche mit einer Frau am Telefon, die mir mehrfach sagt, wie großartig ich sei. Ich hätte ihr ja auch nicht geglaubt. Aber genau so lief es. Das war mein erster persönlicher Kontakt mit Rihanna.« Der Weg dorthin war lang. Großgeworden in den Spätzügen der britischen Warehouse-Ära, kamen Will und sein Partner Saul »Chase« Milton früh mit der Clubkultur in Kontakt. Eine aufregende Zeit: Beeper und Anrufbeantworter liefern die Wegbeschreibung zur Party-Location, Piratensender dienen als Hauptinformationsquelle, es regnet Arzneimittel, die Vier zu der Vier treibt das Herz an, wechselt sich mit Jungle und Breakbeats ab und Dauergrinsen ist die beliebteste Art der Konfliktlösung. »Das war die Zeit meines Lebens«, schwärmt Chase. »Viele Details sind aus meinem Gedächtnis verschwunden oder bleiben für Interviews tabu. Aber das Gefühl von damals ist einfach unbeschreiblich. Es war schon eine extrem spannende Zeit, um erwachsen zu werden. Meine ältere Schwester war sehr aktiv in der Rave-Szene und hat uns früh mitgenommen. In England gab es ja schon ewig Immigranten aus den verschiedensten Gegenden. Und auch wenn Punk, die frühe Skinheadbewegung und HipHop übergreifend waren, kamen erst mit den Raves wirklich alle Menschen zusammen und haben gefeiert. Die Herkunft, Hautfarbe oder die gesellschaftliche Schicht – alles egal. Das lag sicherlich auch an den Unmengen von Drogen, die auf den Partys eingeschmissen wurden, aber es hat funktioniert.«


Illegalen Budenzauber, unangemeldete Open Airs und Spontanausrasten gibt es auch heute, doch was damals im UK abging, ist noch mal eine ganz andere Geschichte. Die Strafe der späten Geburt zwingt zur Recherche und wem das Buch »Class Of 88: The True Acid House Experience« von Wayne Anthony zu teuer und mühsam ist, der könnte mit dem Chase & Status-Video zu »Blind Faith« gut bedient sein. Regisseur Daniel Wolfe öffnet dort ein Requisitenfass der besonderen Art. Bewaffnet mit 1-Chip-Camcordern aus den frühern Neunzigern schickt er eine Truppe von Bürstenschnittbuben mit Jogginghose und mehrfarbigen Blousons aus dem heimischen Messiezimmer raus in die Nacht und lässt kein noch so kleines Detail aus: Die Messer zum Zerschneiden der Dope-Platten am Elektrohitzer zum Glühen bringen, im TV läuft ein Nachrichtenbericht aus der Zeit, ältere Herrschaften warnen vor den Folgen der ausgelassenen Geselligkeiten, Polizeibeamte suchen mit Radarwagen nach Piratensendern. Vom Kinderzimmer geht es in den Pub, Schmerztabletten werden eingenommen, Biere an den Hals gestellt, per Festnetztelefon die Route in Erfahrung gebracht und los geht’s zur Stroboparty. »Wir hatten die Idee, den damaligen Spirit wieder einzufangen. Daniel ist ähnlich aufgewachsen wie wir. Er hat sich richtig reingehängt, wochenlang vorbereitet und alles authentisch hergerichtet: Die alten Kameras, den Look des Pubs und des Zimmers. Ich habe gehört, dass jeder, der das Video gesehen hat, sofort Party machen wollte. Jeder versteht den Tune. Genau das war unsere Absicht.«

Menschen glasige Augen auf die Visagen zaubern und Kids entrückte Gesichtsausdrücke entlocken, das gelingt Chase & Status scheinbar spielend. Seit den Maxis »Hurt You« und »Take Me Away« gelingt ihnen alles. Kein Wunder, dass die »All I Do Is Win«-Generation aus den Staaten auf die beiden Producer abfährt. Die anfangs beschriebene Szene führte Chase & Status in die Liner-Notes des »Rated R«-Albums von Rihanna. Vier Songs konnten sie auf dem Platin­album platzieren, ein Deal als Producer und Songwriter mit Roc Nation öffnet Bürotüren, die für viele europäische Produzenten feucht klebende Hosen bedeuten würden. »Wenn wir in den Staaten sind, sitzen wir mindestens einmal bei Jay-Z im Büro und reden über kommende Projekte. Wir waren mit ihm auch schon im Studio und haben aufgenommen. Drake haben wir über Rihanna kennen gelernt und verstehen uns auch gut mit ihm. Wir haben gejammt, es gibt Songs – aber was daraus wird, kann man halt nie voraussagen. Das Geschäft in Amerika ist eine andere Welt. Zum Glück laufen unsere Alben und Touren gut, deswegen sind wir auch nicht auf das Beatshoppen angewiesen und können das ganz entspannt sehen. Wir haben bei Roc Nation einen Producer- und Songwriter-Deal, aber wir leben und arbeiten hauptsächlich in England. Wenn sich drüben etwas ergibt, freut uns das, aber wir verstellen uns nicht dafür.«

Auch wenn die aktuellen Produktionen für »No More Idols« mit jeder Pore Kirmes und einen großen Hang zur Effekthascherei verströmen, muss man Chase & Status zugestehen, dass sie sich auch hier nicht verstellen. Bis auf Cee-Lo Green, der mit »Brixton Briefcase« den Londoner Slang-Begriff für einen Ghettoblaster übernimmt, sind ausschließlich britische MCs und Sänger vertreten. Auch während ihrer Live-Shows vergessen sie die Herkunft nicht und fügen halbstündige Drum & Bass- und Jungle-Sets ein. Selbst Dizzee Rascal konnten sie auf »Heavy« zur alten Höchstform bringen. »Wir kennen ihn schon länger und mochten natürlich besonders seine frühen Sachen. Jetzt ist er ein riesiger Popstar und macht andere Musik. Die mögen wir auch, allerdings wollten wir für den Tune mal wieder den bösen Dizzee hören. Er hat jedoch auch Gefallen dran gefunden und zwei Bombenverses abgeliefert. Das gefällt uns: erfolgreich sein und trotzdem ruffe ­Sachen durchziehen. Genau wie wir.«

 

Text: Ndilyo Nimindé

 

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